Sucht und Depression: Abhängigkeit als vermeintlicher Schutzmechanismus
Michaela erzählt von ihren Erfahrungen mit Sucht und Depression. Sie ist seit 2021 bei der MUT-TOUR aktiv und inzwischen auch als Tourleiterin unterwegs. Dieses Jahr war sie auf zwei Tandem-Etappen mit dabei, auf der Etappe von Regensburg nach Rosenheim ist dieses Gespräch entstanden.
Wie bist du zur MUT-TOUR gekommen? Und was ist deine persönliche Motivation, dich für mehr Offenheit im Umgang mit psychischen Erkrankungen einzusetzen?
Vor einigen Jahren habe ich die MUT-TOUR durch Recherchen im Internet entdeckt, weil ich mich für Bewegung und Naturerleben interessiere und gleichzeitig auch auf der Suche nach Austausch mit Menschen mit ähnlichen Erfahrungen war.
Ich habe einige Jahre erst missbräuchlich und dann abhängig Alkohol konsumiert, wodurch sich bei mir depressive Phasen entwickelt haben. Und gerade weil das Thema Sucht immer noch mit viel Scham besetzt ist und Menschen Stigmatisierungen erfahren, gehört es für mich mehr in die Öffentlichkeit.
Mir ist wichtig zu zeigen, dass eine Suchterkrankung keine Willensschwäche, sondern eine Erkrankung ist. Denn ähnlich anderer psychischer Erkrankungen können verschiedene Faktoren zu süchtigem Verhalten hinführen. In der Folge kann sich eine Abhängigkeit auch sehr schleichend entwickeln. Daher möchte ich dazu anregen, das eigene Verhalten zu hinterfragen und nicht auf andere mit dem Finger zu zeigen mit dem Hintergrund „Der süchtige Mensch ist der Willensschwache“, dazu ist die Erkrankung und deren Ursache viel zu komplex.
„Es hätte mir geholfen, wenn mich jemand auf mein Trinkverhalten angesprochen hätte, ohne es dabei zu betiteln oder zu bewerten. Das hätte mir einen Schubs gegeben, mich früher in Behandlung zu begeben.“
Sucht und Depression waren für Michaela wie eine Spirale. Herausgeholfen hat ihr, mit Menschen darüber zu sprechen, Sport zu machen und mehr auf die eigenen Bedürfnisse zu achten. Jetzt ist sie Tourleiterin bei der MUT-TOUR und spricht offen über ihre Erfahrungen, um so Anderen helfen zu können.
Du hast Stigmatisierungen erwähnt, welche Erfahrungen hast du im Zusammenhang mit deiner Abhängigkeitsgeschichte selbst gemacht?
Ich habe mein abhängiges Trinkverhalten sehr lange auf meiner Arbeitsstelle verheimlicht, weil ich Angst hatte, meinen Job zu verlieren – dabei muss man wissen, dass der Job und das Trinken das einzige waren, das ich hatte. Ich wurde nicht direkt stigmatisiert, allerdings hat sich auch keiner getraut, mich auf mein Trinkverhalten bzw. Verhaltensänderungen von mir anzusprechen.
Es hätte mir geholfen, wenn mir einer meiner Kolleg*innen gesagt hätte: „Ich sehe, du veränderst dich gerade.“ Oder: „Mir ist xy aufgefallen“, ohne es dabei zu betiteln oder zu bewerten. Auch wenn es natürlich super beschämend für mich gewesen wäre, denn ich wusste auch schon lange, dass mit mir etwas “nicht stimmt”.
Ich möchte niemandem im Nachhinein einen Vorwurf machen, denn ich weiß, dass sie lediglich unsicher waren, wie sie mich darauf ansprechen sollten. Dennoch hätte es mir einen Schubs gegeben, mich früher in Behandlung zu begeben.
Im Rückblick wurde ich nach meinem Outing sogar an die Hand genommen, denn in meiner Firma gab es Hilfsangebote. Daher kann ich nur sagen: „Habt MUT – sprecht die Menschen an und sagt, was ihr an ihnen wahrnehmt”. Darüber überhaupt ins Gespräch zu kommen und es nicht zu ignorieren, kann schon helfen, die Hemmschwelle fallen zu lassen, sei es im Freundes- oder Familienkreis oder eben auf der Arbeit.
Gab es Frühwarnsignale, dass sich ein abhängiges Trinkverhalten bei dir entwickeln würde?
Ein Warnsignal war, dass ich immer mehr trinken wollte und musste. Beispielsweise habe ich in meiner Jugend gemerkt, dass mich der Alkohol lockerer macht und mir der Kontakt mit anderen dadurch leichter fällt. Deshalb habe ich oftmals auch schon alleine zu Hause getrunken. Insbesondere das „Alleine Trinken“ war ein Frühwarnzeichen, sowie den Alkohol einzusetzen, um meine Ängste zu deckeln oder Gefühle wegzudrücken.
Die MUT-TOUR legt den Schwerpunkt auf Depression, wie ist es bei dir, hast du auch Erfahrungen mit depressiven Phasen gemacht?
Die Depression ist sicherlich auch eine Begleiterkrankung der Sucht. Es kann durchaus passieren, dass eine Sucht erst durch die Depression entsteht, aber auch andersherum. Bei mir selbst ist es eine Spirale gewesen, je mehr ich getrunken habe, desto schlechter wurde meine Stimmung, desto antriebsloser bin ich geworden und desto weniger Selbstwert hatte ich. Und klar, frage ich mich dann, was zuerst da war. Vielleicht kann das auch gar nicht so genau gesagt werden und es ist für mich auch nicht so wichtig.
Welche Faktoren haben dich dazu bewogen, dir Unterstützung im Umgang mit deiner Alkoholabhängigkeit zu suchen bzw. Hilfsangebote aufzusuchen?
Ich habe erstmal gemerkt, ich möchte so nicht mehr weiterleben – „Das war für mich kein Leben“. Und dann hat mir geholfen, dass mir Menschen die Hand gereicht haben – sei es in Kliniken und bei Selbsthilfegruppen oder der Suchtberatung. Zusätzlich habe ich selbst viel in Bewegung gesetzt, indem ich viel recherchiert, viel Sport getrieben und mir ein Netzwerk aufgebaut habe – bspw. mit Projekten wie der MUT-TOUR. Wenn ich heute zurückblicke, weiß ich, dass ich es alleine nicht geschafft hätte. Dieses große Netzwerk hat viel dazu beigetragen, dass ich heute an einer anderen Stelle stehe als damals.
„Mir hilft, wenn ich mehr auf meine Intuition und meine innere Stimme höre. Und insbesondere meine eigene Selbstfürsorge ist immens wichtig.“
Welche Faktoren helfen dir im Moment bzw. was hast du in deinem Leben bewusst verändert?
Grundsätzlich verändern wir uns ja ständig. Für mich ist allerdings wichtig, dass ich mehr auf meine Intuition und meine innere Stimme höre. Und insbesondere meine eigene Selbstfürsorge ist immens wichtig.
Was mir hilft:
- Menschen, mit denen ich sprechen kann
- Sport machen
- mein Netzwerk pflegen
- beruflich und in meiner Freizeit Dinge tun, die mir Spaß machen und mich erfüllen
- auch neue Dinge ausprobieren und mich Herausforderungen stellen
- und mir in meinem Alltag mehr Raum für Achtsamkeit zu ermöglichen.
Welche Effekte hatte deine Etappenerfahrung auf deinen Alltag?
Zum einen sind es die Menschen, die ich während der Tour kennengelernt habe – Teilnehmende, aber auch Menschen, die uns unterwegs begegneten – von deren Gesprächen und mutmachenden Worten konnte ich viel mitnehmen. Zum anderen macht es mir Mut, zu erfahren, dass es anderen Menschen ganz ähnlich geht und sie auch mit eigenen Ängsten und Zweifeln zu tun haben. Das gibt mir ein Gefühl, nicht allein mit dem Thema zu sein, schweißt zusammen und öffnet mir die Augen. Die Erlebnisse wirken wie ein kleiner Spiegel, der mir vorgehalten wird.
Aber auch viele verschiedene Faktoren aus dem Touralltag haben mir geholfen, mit meinen Ängsten in Kontakt zu kommen: die generelle Herausforderung anzunehmen, beispielsweise nicht zu wissen, wo ich nachts schlafen werde, und die körperliche Herausforderung. Oder die Reizüberflutung im Verkehr der Großstadt zu erleben und damit umgehen zu können. Und dann zu erleben, dass ich in der Gemeinschaft mit dem Team allen Herausforderungen begegnen konnte – das stärkt mich ungemein und hat eine Wirkung auf mein Selbstwertgefühl. Viele Effekte ergeben sich auch nachhaltig, wenn man nach der Tour dann wieder im Alltag ist.
Was magst du anderen Menschen noch mitgeben? Vielleicht auch Menschen, die mit dem Thema Sucht in Kontakt sind.
Erstmal an die Betroffenen selbst: Ich weiß, es ist total schwer und auch, wenn es scheinbar keinen Ausweg gibt: Dranbleiben lohnt sich! Ein guter Schritt ist vielleicht erstmal in eine Selbsthilfegruppe zu gehen. Dort kann man anderen Betroffenen begegnen, die einen ähnlichen Weg gehen und so fällt es oft leichter, über die eigene Erfahrung zu sprechen. Nehmt das Versorgungssystem in Deutschland in Anspruch. In jeder größeren Stadt gibt es Suchtberatungsstellen, dort bekommt man Unterstützung. An dieser Stelle auch ein Dank an die Menschen, die in diesem Bereich tätig sind, denn die Erkrankung ist oftmals mit vielen Rückschlägen verbunden.
Angehörigen mag ich mitgeben, auf sich selbst zu achten und – so hart wie es klingt – konsequent zu bleiben. Nicht immer wieder zu sagen “Ich helfe dir jetzt trotzdem, denn du hattest einen Rückfall”. Angehörige müssen sich auch selbst schützen. Und im schlimmsten Fall gehen, wenn ihre persönlichen Grenzen erreicht sind. Doch auch das ist nicht einfach und ein eigener Prozess.
Und generell lege ich allen Menschen ans Herz, sich zu fragen: “Warum konsumiere ich gerade? Weil ich Lust darauf habe oder weil es mir nicht gut geht oder ich gestresst bin?” Dabei muss es nicht mal Alkohol sein, es gibt so viele Drogen, auch Zucker. In diesem Sinn kann die Abhängigkeit auch zu einem eigenen Schutzmechanismus werden – „Oh da kommt Gefahr und mir geht’s da nicht gut, also begebe ich mich in diesen sicheren Raum, wo ich weiß, hier komme ich wieder in die gewohnte Bahn.“ Und kurzfristig mag das vielleicht helfen, doch langfristig schädigt es nicht nur den Körper, sondern auch alle anderen Bereiche des Lebens.
„Man sollte sich immer fragen, warum konsumiere ich gerade. Das muss nicht Alkohol sein, es gibt so viele verschiedene (auch alltägliche) Drogen – wie Zucker.“