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Weg zu mehr Selbsthilfe, Symbolbild

Weg zu mehr Selbsthilfe

Wer wohlwollend und achtsam mit sich selbst umgeht, kann daraus Kraft für sich und für andere schöpfen. Der Weg dahin ist immer wieder eine Herausforderung. Die MUT-TOUR-Teilnehmerin Johanna hat sich in den letzten zwei Jahren bewusst und sehr persönlich mit dem Thema Selbstfürsorge und Wohlbefinden auseinandergesetzt und wir haben sie dazu interviewt.

Bitte erzähl doch zu Beginn ein bisschen was über dich und wie dein Leben gerade aussieht.

Ich bin 24 Jahre alt und wohne in einer WG mitten in der Natur im Allgäu. Ich studiere, liebe es, Zeit in der Natur zu verbringen, Querflöte zu spielen und mich für Dinge zu engagieren, die mir wichtig sind. Das sind neben dem Umgang mit psychischer Gesundheit in unserer Gesellschaft auch die Arbeit mit Menschen in herausfordernden Lebenssituationen und der respektvolle, achtsame Umgang mit unserer wunderbaren Erde. Ich schätze es sehr, dass ich Teil verschiedener (Herzens-)Projekte sein darf, auch wenn mein Tag dafür gerne manchmal 36 Stunden haben dürfte.

Wie sieht momentan ein typischer Tagesablauf bei dir aus?

Im Grunde sind die Tage bei mir recht individuell, ich versuche aber gewisse Routinen beizubehalten. Dazu gehört ein regelmäßiger Schlafrhythmus, ein Frühstück ohne Hektik, optimalerweise eine kleine Runde Meditation und dann beschäftige ich mich entweder mit Studiumsinhalten, habe eine Vorlesung oder gehe arbeiten. Nachmittags mache ich ein bisschen Sport in der Natur. Am späten Nachmittag meist nochmal Unisachen, für die ich mich nicht so sehr konzentrieren muss und abends dann Haushalt, skypen, lesen etc., auf jeden Fall etwas, was mir gut tut und worauf ich in dem Moment Lust habe. Abends plane ich auch immer noch den nächsten Tag, damit ich darauf gut vorbereitet bin und genau weiß, was auf mich zu kommt. Diese Grundstruktur gibt mir genug Freiheiten, um auf spontane Änderungen oder Erfordernisse reagieren zu können, stellt aber auch sicher, dass ich Dinge wie Sport, in der Natur sein und generell den Bereich Freizeit und Erholung nicht vernachlässige.

Wie hat sich dein Alltag im Laufe der letzten zwei Jahren verändert?

Anfang 2020 ging es mir psychisch leider überhaupt nicht gut, weshalb ich auch in einer Klinik behandelt wurde. Durch Corona konnten dort viele Angebote nicht mehr bzw. nur noch sehr eingeschränkt durchgeführt werden. Struktur hatte ich dort in meinem Alltag so gut wie gar nicht, bis auf die Mahlzeiten, und auch keine nennenswerten Ziele, die mir attraktiv und/oder machbar erschienen. Mein Leben erschien mir dort wie eine einzige Baustelle, die keine Aussicht auf Fertigstellung oder Weiterentwicklung hatte. 

Mit der Zeit fühlte ich mich wieder freier und konnte auch einige Entscheidungen treffen, die durchaus größeres Änderungspotenzial hatten. Beispielsweise bin ich im Oktober in eine neue WG gezogen. Meine Mitbewohner*innen sind sehr angenehm, wir reden gerne miteinander, aber respektieren es auch, wenn jemand seine Ruhe möchte. Außerdem wohne ich nicht mehr in der Stadt, sondern im recht extremen Gegenteil, in einer Ansammlung von sechs Häusern. Nicht gerade die typische Studierenden-Entscheidung, aber mir geht es damit sehr gut. 

Ich habe viel Routine in mein Leben gebracht und viele Handlungen, die mir bisher normal schienen, hinterfragt.

Das Hinterfragen wurde übrigens zu einer eigenen Routine. Einmal wöchentlich schaue ich, was gut lief und was ich in der kommenden Woche ändern möchte. Daneben mache ich mir meine Wochen-, Monats- und längerfristigen Ziele klar und versuche ihnen durch konkrete wöchentliche Schritte näher zu kommen. Aktuell funktioniert das für mich sehr gut, vor allem, da es dadurch „Routine“ geworden ist, wohlwollender und verständnisvoller mit mir selbst umzugehen. Früher hatte ich noch deutlich mehr unrealistische Ansprüche an mich, die mir mein Leben eher erschwert als erleichtert haben.

Die wichtigste Änderung war aber wohl die, mich nach meiner Gesundheit auszurichten, damit das, was ich tue, für mich und meine Umgebung nachhaltig ist – auch wenn das bedeutet, dass ich dann und wann mal gesellschaftliche Normen und Ideale außer Acht lasse. Früher hatte ich eine genaue Auflistung an Eigenschaften und Verhaltensweisen vor Augen, bei der ich dachte, ich müsse sie erfüllen, um in der Gesellschaft als Mitglied akzeptiert werden zu können. Ich befürchtete damals oft, als zu „fehlerbehaftet“ und ungenügend enttarnt zu werden. Im letzten Jahr habe ich aber gemerkt, dass ich einige dieser vermeintlich notwendigen Eigenschaften gar nicht haben möchte und auch nicht brauche. Ich muss weder der Gesellschaft noch mir selbst Dinge beweisen, um meine Existenz zu rechtfertigen.  

Wichtig zu sagen ist auch, dass trotzdem definitiv nicht immer alles rund läuft.

Mir würden immer genügend Dinge einfallen, die nicht optimal bis echt schlecht sind, aber mein Umgang damit hat sich in den letzten Monaten verändert. Ich denke, jede*r kennt den Ratschlag, das zu ändern, worauf wir Einfluss haben und den Rest zu akzeptieren bzw. damit einen guten Umgang zu finden. Das Akzeptieren fiel mir früher noch deutlich schwerer und das ist auch einfach ein Prozess, der nicht von heute auf morgen abgeschlossen ist, aber es lohnt sich und erleichtert vieles im Leben.

Wie sah der Weg zu mehr Selbstfürsorge konkret für dich aus? 

Ich kann mir meine Zeit zu einem großen Teil selbst einteilen, da ich studiere und einen Nebenjob habe. Anfangs musste ich damit erst klar kommen, da mir Struktur sehr wichtig ist. In den ersten Wochen meines Studiums habe ich eine für mich passende Routine entwickelt, die es mir ermöglicht, auch mal bei gutem Wetter spontan mehr Zeit in der Natur zu verbringen und Pausen zu machen, wenn ich sie benötige und nicht, wenn mein Vorlesungsplan mir sie erteilt. Freiheit ist in diesem Punkt wahrscheinlich mit der größte Faktor zur Verbesserung meines Wohlbefindens gewesen, auch im Vergleich zum durch Corona strengen Schutz- und Hygienekonzept in der Klinik. 

In der Zeit nach der Klinik habe ich gelernt, mir nach anstrengenden Tagen Zeit für mich zu nehmen, um alles zu verarbeiten und meine Energiereserven wieder zu füllen. Dass durch den Lockdown das soziale Leben heruntergefahren war und ich nicht ständig Druck verspürte, z.B. noch auf eine Party gehen zu müssen, hat diesen Prozess erleichtert. Ich habe festgestellt, dass ich einfach ein bisschen anders ticke und andere Bedürfnisse habe, als es das Bild der jungen, feiernden Studentin oftmals vorgibt. Vorher habe ich das meist als Last empfunden, als ein „nicht mithalten können“. Heute kann ich das annehmen. Ich weiß, dass es wichtig ist, dass ich mich gut um mich kümmere und dass es niemandem etwas bringt, wenn ich nur vermeintlichen Standards hinterher springe. Ich war noch nie ein Mensch, der abends gerne auf Partys gegangen ist. Spieleabenden kann ich da schon deutlich mehr abgewinnen, aber am liebsten sind mir Treffen im kleinen Kreis, gerne zum Wandern oder auch Eis essen – und auch Treffen über Skype freuen mich. Mir persönlich reicht das dann aber auch oft.

Ich sehe heute, dass es wohl deutlich mehr Menschen gibt, die mir ähnlich sind und ich nicht die einzige „Komische“ bin. Und das ist auch nichts, wofür ich mich schämen müsste. Es schadet schließlich niemandem, wenn ich mir meine Selfcare-Zeit nehme. Im Gegenteil: Wenn ich das nicht tue und dann deshalb gereizt bin, tut es meinen Mitmenschen eher weh. Mein „Betriebssystem“ ist nun mal so, dass es andere Pausen braucht als die, die typische extrovertierte Personen brauchen. Mein Betriebssystem so zu akzeptieren hat mir geholfen, mich dann auch so zu verhalten, dass ich ihm nicht schade.

 

Weg zu mehr Selbsthilfe, Symbolbild

„Die wichtigste Änderung war aber wohl die, mich nach meiner Gesundheit auszurichten, damit das, was ich tue, für mich und meine Umgebung nachhaltig ist.“

Wie würdest du deine Stärken beschreiben, die du im Umgang mit dir selbst in den letzten zwei Jahren dazu gewonnen hast?

Ich respektiere meine Bedürfnisse und nehme sie ernst. Auch wenn mir manche nicht so recht in den Plan passen, akzeptiere ich sie, denn ich weiß, dass es mir andernfalls nicht gut geht. Konkret heißt das: Ich höre auf mein Gefühl. Wenn ich merke, dass ich keine Energie für ein Gruppentreffen auf Skype habe, dann kann die Runde auch mal ohne mich auskommen und ich gehe stattdessen beispielsweise spazieren. Die Befürchtung, dass das den anderen stark oder negativ auffallen würde, oder sie deshalb schlecht von mir denken würden, tritt heute sehr selten ein. Mittlerweile kann ich mich davon distanzieren. Die Vorstellung „ich muss XY, sonst passiert Z…“ hat mich früher oft stark eingeschränkt. Heute kann ich selbstbewusster damit umgehen und erkennen, dass ich XY eigentlich gar nicht tun muss und Z trotzdem nicht passiert. 

Außerdem habe ich mich auf die Suche nach Tätigkeiten begeben, die sich für mich sinnvoll anfühlen und mir darüber hinaus auch Spaß machen. Dabei habe ich einige neue Prioritäten in meinem Leben gesetzt: Ich habe gemerkt, dass ich mich bisher oft daran orientiert habe, wie andere etwas bewerten könnten und nicht daran, wie ich es selbst wahrnehme. Diese Umstellung war anfangs sehr ungewohnt für mich, aber mit der Zeit habe ich gemerkt, dass sie richtig für mich war. Ich konnte dadurch neu entdecken, was mir Energie gibt, was mich glücklich macht etc. und dies dann auch in meinem Alltag umsetzen. 

Ich erlaube mir, Dinge nur zu machen, weil sie mir gut tun, ohne mich zu vergleichen.

Beispielsweise Querflöte spielen: Ich bin definitiv keine professionelle Musikerin und habe auch nicht die Ambition dazu. Ich möchte nur für mich spielen, weil es mich glücklich macht. Bei der Vorstellung, ich müsste bei Auftritten im Mittelpunkt stehen und mich vergleichen (lassen), bekomme ich schon solche Angst, dass das Spielen und Üben mit Entspannung und Freude nichts mehr gemein hätte. 

Zudem habe ich ein Grundvertrauen in das Leben entwickelt, das es mir erlaubt, aus vollem Herzen „Ja“ zum Leben zu sagen. Noch vor einem Jahr brauchte ich diesen Fluchtplan, falls mir alles zu viel wird. Heute weiß ich, wie ich damit umgehen kann und weiß, dass ich eigentlich sehr an meinem Leben hänge und auch künftige Schwierigkeiten allein oder mit Familie bzw. Freunden bewältigen kann. Und dieses Vertrauen schenkt mir die Leichtigkeit, dass ich all die schönen Umstände im hier und jetzt wahrnehmen kann.

Gibt es noch etwas, das dir zu dem Thema Selbstfürsorge wichtig ist und das du noch nicht repräsentiert siehst?

Ich möchte gerne noch einen Hinweis dazu geben, wie das Interview verstanden werden soll, um Missverständnisse zu vermeiden:

Selbstfürsorge sollte keine zusätzliche “Qual” sein oder etwas, das für ein optimiertes Leben abgehakt werden muss. Dieser Leistungsgedanke ist in meinen Augen nicht mit den wesentlichen Gedanken der Selbstfürsorge vereinbar.  

Selbstfürsorge begreife ich als sehr individuell (auch wenn es natürlich Techniken gibt, die viele Menschen als hilfreich empfinden) und kann sich je nach Situation, Lage und Bedürfnissen auch über die Zeit verändern.

Selbstfürsorge bedeutet für mich an manchen Tagen auch nur, dass ich schaue, dass ich genügend esse, trinke und mich dann irgendwie zum Schlafen bekomme, weil ich in dem Moment merke, dass für mich alle anderen Selbstfürsorge-, Reflexions- und sonstige Strategien nicht mehr anschlagen. Das Schlafen ist dann sozusagen Schadensbegrenzung und mit etwas Glück kann ich mich am nächsten Tag schon etwas besser und aktiver um mich selbst kümmern. 

Und vor allem: Selbstfürsorge ist leider keine Garantie dafür, dass man nicht (noch einmal) psychisch erkranken kann oder dass eine bestehende Erkrankung dadurch nahezu verschwindet. Fürsorglich mit sich selbst umzugehen ist also keine Lösung oder Therapie, aber eine Unterstützung, die uns auch dazu befähigen kann, Warnsignale besser wahrzunehmen.

positive wirkung der Natur auf psychische Gesundheit

„Wenn ich merke, dass ich keine Energie für ein Gruppentreffen auf Skype habe, dann kann die Runde auch mal ohne mich auskommen und ich gehe stattdessen beispielsweise spazieren.“  Johanna hat sich zudem bewusst dazu entschieden fern der Stadt und in der Nähe der Natur zu leben.

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