Die radikale Akzeptanz des Lebens lernen
Sylwia war dieses Jahr zum ersten Mal bei der MUT-TOUR dabei und erzählt Franzi von ihren Erfahrungen unterwegs, von ihrer eigenen Betroffenheit mit Depression und der Möglichkeit, durch die Erkrankung die Akzeptanz des Lebens zu lernen.
Sylwia, du warst dieses Jahr auf einer Wander- und einer Tandem-Etappe mit dabei. Magst du erzählen, wie das für dich war?
Es war genau das, was ich mag: Zelten, Natur, Bewegung, nette Menschen, Gemeinschaft – das alles ist einfach Heilung! Für mich zumindest. Vielleicht möchte nicht jede*r gerne ohne Dusche mehrere Tage in der Wildnis zelten und natürlich ist es manchmal auch sehr anstrengend. Aber für mich sind das auch Schritte, die mir helfen zu sehen: Egal was passiert, es geht weiter.
Das heißt, das minimalistische Leben auf der Tour spricht dich an? Was macht das mit dir?
Ich habe immer schon gemerkt, wenn ich mit wenigen Dingen reise, z. B. nur einem Rucksack oder einem Koffer, dann ist da natürlich erst einmal die Angst, dass man nicht alles für jede Situation dabei hat. Aber im Endeffekt merke ich, wenn ich weniger dabei habe, komme ich viel besser klar mit dem, was ich habe. Und es zeigt sich auch viel deutlicher, was wirklich wichtig ist. Der Überfluss des Alltags macht auch in meinem Kopf einen Überfluss und ich kann das nicht alles kontrollieren.
Und wenn mir unterwegs tatsächlich etwas fehlt, gibt mir das die Möglichkeit, auch andere innere Hindernisse zu bewältigen: nämlich um Hilfe zu bitten. Mit anderen Menschen ins Gespräch zu kommen. Das ist ein ganz wichtiger Schritt, weil sonst immer ich diejenige war, die geholfen hat, die alles gegeben hat. Mich nun auch in der anderen Rolle zu finden, dass ich Hilfe und Unterstützung brauche und danach frage, das ist eine wichtige Übung für mich.
Eine kleine Dehneinheit vor der Weiterfahrt – Sport hilft Sylwia, ihren Körper wieder mehr zu spüren und mehr auf die eigenen Bedürfnisse einzugehen.
Und was hilft dir dabei, mehr auf deinen Körper zu hören?
Sport und generell Bewegung sind sehr wichtig für mich. Zwar bin ich danach oft müde oder merke, mein Herz kann jetzt nicht mehr, aber das ist richtig gut für mich. Denn ich habe gemerkt, wenn ich eine Panikattacke habe, schlägt mein Herz genauso schnell, wie wenn ich Sport mache. Und das ist eigentlich die gleiche Sache. Ich sterbe jetzt nicht gleich, nur weil mein Herz so stark schlägt. Sondern es ist eine ganz normale körperliche Reaktion, einmal auf Sport und einmal auf Angst. Ich sterbe nicht davon, es hört wieder auf. Das hat mir geholfen, mit Panikattacken ruhiger umzugehen.
Das heißt, du bist nicht nur im Kopf mit dir unterwegs, sondern spürst auch deinen eigenen Körper?
Genau, und das ist für mich gerade das Allerwichtigste. Ich merke auch, dass mein Kopf frei wird, wenn ich Sport mache und dass das fast meditativ sein kann. Doch gleichzeitig muss ich sagen, dass ich nicht immer zu körperlicher Anstrengung fähig bin, auch wenn ich weiß, hinterher werde ich mich super gut fühlen. Manchmal geht es einfach nicht.
Früher hatte ich deswegen oft Schuldgefühle und habe mir gesagt: Sei doch nicht so faul. Auch, weil ich solche Sätze viel in meinem Umfeld gehört habe. Immer habe ich mich verglichen mit Anderen, habe sehr viel geleistet im Leben, sehr viel studiert, sehr viel gearbeitet und und und. Ich war dann auch einfach nicht freundlich mit mir. Und jetzt lerne ich, okay, manchmal geht es einfach nicht. Dann akzeptiere ich das und Schluss. Doch das ist immer ein innerer Kampf.
Aber der Kampf verändert sich?
Ja, es ist auf jeden Fall ein Prozess und ich merke, er gibt mir auch eine Art radikale Akzeptanz des Lebens. Es gibt immer verschiedene Phasen. Ich bin auch nicht mehr die Jüngste, vieles geht nicht mehr so wie früher, ich kann nicht mehr so viel “leisten”. Das ist einfach so. Und ich denke, dieser innere Kampf hilft mir dabei, das Leben und das Altern generell leichter zu akzeptieren.
``Es ist wichtig, auch an Andere zu denken. Doch dabei muss man eine Balance finden. Wenn ich nicht stark genug bin, um mir selbst zu helfen, dann kann ich auch anderen nicht helfen.``
Nasse Zelte hängen zum Trocken in der Morgensonne: Unterwegs auf der MUT-TOUR wird man immer wieder von herausfordernden Situationen überrascht, wie etwa ein Regenschauer beim Zeltaufbau. Sylwia sieht darin die Chance, einen wichtigen Prozess zu lernen, der ihr auch mit der Depression hilft: Egal was passiert, es geht weiter.
``Der Überfluss im Alltag macht auch im Kopf einen Überfluss. Das kann ich nicht alles kontrollieren.``
Du sagtest vorhin, du bist selbst betroffen. Möchtest du uns erzählen, was für Erfahrungen du mit psychischen Krisen gemacht hast?
Ich bin betroffen, ja, auch von richtig schweren depressiven Phasen, in denen ich nicht einmal aus dem Bett komme, nicht schlafen, nicht essen kann, gar nichts. Und es gibt leichtere Phasen, wo ich gut im Alltag klar komme, wo ich auch zum Beispiel an so einer Wanderung und Radtour teilnehmen kann. Diese zwei Phasen wechseln sich immer wieder ab, und das musste ich auch erst einmal akzeptieren. Und dabei auch lernen, dass die gute Phase nicht bedeutet, jetzt ist alles vorbei. Doch ich merke inzwischen, dass die guten Phasen immer länger werden und auch immer öfter kommen.
Die depressiven Phasen, zusammen mit einer Angststörung, Panikattacken und verschiedenen somatischen Einschränkungen sind Nebenerkrankungen, die durch eine posttraumatische Belastungsstörung entstanden sind. Ich konnte das jahrelang ignorieren, doch inzwischen geht das nicht mehr: Migräne, Bauchschmerzen, Rückenschmerzen. Mein Körper hat mir eindeutige Signale gesendet. Und auch einfach mal gesagt: Nein, hier ist Schluss. Manchmal habe ich das Gefühl, dass ich mich wieder neu lernen muss, nach der Krise.
Pausen machen, wenn der Körper es braucht. Oft hat sich Sylwia Schuldgefühle deshalb eingeredet: „Sei doch nicht so faul.“ Jetzt lernt sie, die Grenzen ihres Körpers zu akzeptieren.
Gibt es noch etwas, das du anderen Menschen mitgeben möchtest?
Ich habe oft gesehen, dass Menschen, die sich in Krisen befinden, in helfenden Berufen arbeiten oder eine*n Angehörige*n pflegen. Grundsätzlich finde ich das richtig und gut, weil wir meiner Meinung nach in unserer Gesellschaft oft zu egoistisch und individualistisch sind. Es ist wichtig, auch an Andere zu denken. Doch dabei muss man eine Balance finden.
Ich verstehe jetzt, was im Flugzeug passiert: zuerst soll ich mir selbst die Sauerstoffmaske aufsetzen und dann den Menschen neben mir. Wenn ich nicht stark genug bin, um mir selbst zu helfen, dann kann ich auch anderen nicht helfen.