Außen vor und trotzdem mitten drin – Kinder psychisch erkrankter Eltern
Dieser Text stammt aus einem Vortrag im Rahmen der Tagung “Im offenen Dialog” des ApK Berlin, bei dem unsere Tourleiterin Franziska aus ihrer Erfahrung als angehöriges Kind eines Menschen mit psychischer Erkrankung berichtet.
Die Kinderstimme wird oft, ob nun bewusst oder unbewusst durch alle Beteiligten – sei es durch Profis, krisenerfahrene Eltern, Angehörige, aber auch durch die Kinder selbst – überhört oder nicht wahrgenommen bis sie verstummt. Wir verstummen immer wieder und haben gelernt, es dabei zu belassen! Es ist eine Herausforderung, über unser eigenes Erleben zu sprechen. Denn innerlich herrscht die große Verunsicherung, ob die eigene Stimme überhaupt von Bedeutung ist und ob unsere Gefühle in diesem Kontext von Relevanz sind.
Doch warum ist das wohl so? Warum sind wir verunsichert und entwickeln zum Teil Auffälligkeiten? Und wie kann es passieren, dass die Bedürfnisse der Kinder nicht ausreichend wahrgenommen werden – besonders mit dem Hintergrund, dass wir ein erhöhtes Risiko tragen, selbst zu erkranken?
Deutlich wird es sicherlich an Erfahrungswerten, die ich innerhalb eines Schulungstages meiner Peerausbildung vom Verein Angehörige psychisch erkrankter Menschen e.V. (ApK) in einer Gruppe von “Kindern” zusammengetragen habe – wir waren zu dritt – Kinder unterschiedlicher Alters- und Lebensrealitäten. Diese Erfahrungswerte spiegeln die Herausforderungen, mit denen wir als Kinder psychisch erkrankter Eltern im Alltag konfrontiert waren und auch als heute erwachsene Menschen noch immer sind, wider. Denn besonders dieser Faktor liegt doch auf der Hand: Aus der Rolle des Kindes unserer Eltern scheiden wir nur durch unser Ableben aus. Natürlich gibt es die Möglichkeit, sich bewusst von der eigenen Familie abzuwenden. Doch wir werden immer, zumindest gedanklich, in der Rolle des Kindes mit dem Elternteil verbunden sein.
Besonders in Zeiten, die von psychischen Krisen der Eltern geprägt sind, bewegen wir Kinder uns in einer Unsicherheit, in der Zuverlässigkeit eher etwas ist, das wir fern der familiären Zelle finden. Wir können die Unberechenbarkeit unserer Eltern nicht einschätzen und sind ihr ausgeliefert, sofern keine weitere Hilfe von außen kommt. Und auch wenn Krisen in Phasen verlaufen, ist es doch unser Alltag und unsere Normalität. Um uns zu schützen, passen wir uns dem an und entwickeln eigene Bewältigungsmuster, die sich jedoch nicht immer als förderlich für den eigenen Lebensweg erweisen.
Mehr Verantwortung, weniger Peter Pan-Dasein
Wir Kinder übernehmen Verantwortung in einer Zeit, in der wir selbst noch auf Orientierung angewiesen sind und dadurch kehren sich die Eltern-Kind-Rollen immer wieder um. Sei es in der Form, dass ein Kind sich selbst „ins Bett bringen“ muss oder aber auch, dass wir als Kinder Erklärungen für Verhaltensweisen unserer Eltern suchen. Dies passiert, indem wir uns an die jeweiligen wechselnden Zustände und Umstände verschiedener Systeme – nicht nur innerhalb der Familie, sondern auch des Versorgungssystems – anpassen. Wir reagieren hochsensibel auf Worte und Handlungen – wir sind sozusagen kontinuierlich in Habacht-Stellung, immer in der Position, im entsprechenden Moment reagieren zu können. Vielleicht kann dies auch als eine schwache Form chronischen Stresses verstanden werden. Unser kindlicher Schutzraum – die Zone des Peter Pan-Daseins – wird immer wieder gestört und zwingt uns, unsere eigene Entfaltung zu unterbrechen und in den Hintergrund zu schieben. Dabei lernen wir, uns selbst nicht so wichtig zu nehmen. Besonders in Zeiten der Krise dreht es sich in Gesprächen am Essenstisch, bei einem Tierparkbesuch, in Besuchen bei Klinikaufenthalten, in den Augen des nicht betroffenen Elternteils überwiegend um die Erkrankung/um den Krisenfall/um die Erschöpfung und die Sehnsucht nach einer Lösung. Im ungünstigen Fall wird hier nicht gefragt, wie wir die Welt sehen oder ob wir uns selbst die Schuld für die Gemütszustände unseres betroffenen Elternteils geben.
Wir Kinder sind alleine, allein mit unseren Gedanken und Wünschen. Dadurch fühlen wir uns unsichtbar. Als sei unser Erleben der Situation unwichtig und unsere Anpassung daran eine Selbstverständlichkeit.
Kindliche Gefühle sollten nicht erst mit Vertragsmündigkeit von Bedeutung sein. Schließlich müssen wir uns bereits in frühen Jahren allein die Antwort suchen, beispielsweise auf die Frage, ob wir eben selbst Schuld an der Krise des betroffenen Elternteils sind. Diese Frage scheint eine simple zu sein; ebenso die an uns gerichtete Aussage, dass wir definitiv keine Schuld an den Gemütszuständen unseres Elternteils haben. Ich kann jedoch sagen, dass genau diese Schuldfrage zumindest bei mir selbst immer wieder mit Zweifeln im Gepäck Beziehungsdynamiken – auch zu Menschen außerhalb des Krisensettings – verunsichert. Am Ende kreist die Schuldfrage doch um alle und alles und ist Teil des gesamten Prozesses – zum Beispiel hätte ich etwas tun können, um die Situation zu verändern. Dennoch helfen uns gerade Fragen und Aussagen wie diese, unser Erleben zu hinterfragen und eine eigene Haltung zu entwickeln. Am Ende stärken auch diese Fragen unsere Resilienz, von daher ist es wichtig, dass wir darüber sprechen und auch scheinbar unangenehme Themen wie Scham und Schuld auf den Tisch legen.
Sinnbildlich für kleine, manchmal übersehene Angehörige.
Ein Gefühl des Nicht-Einbezogen-Werdens.
Unsere persönlichen Rückblicke sind von Momenten gezeichnet, in die wir nicht mit einbezogen wurden, sicherlich aus ihrer Sicht zu unserem Schutz. Dieses Nicht-Einbezogen-Werden öffnet allerdings Interpretationsräume für Kinder, mit denen sie im Hilfesystem meist alleingelassen werden. Doch stellt sich hier nicht die Frage, wer eigentlich bestimmt, ab welchem Alter Menschen eine Stimme und Gehör zugesprochen werden sollte? Ist es nicht eine grundsätzliche Frage, warum auf die hoch individuelle Erlebniswelt des Kindes besonders in Zeiten der fehlenden Orientierung nicht eingegangen wird? Und spricht es nicht eher gegen den umgelegten Schutzmantel für das Kind, einfach alles ohne Erklärungen geschehen zu lassen? Vielleicht hilft hier eine direkte Frage: welche früheste Kindheitserinnerung kommt dir in den Sinn, wenn du an deine Kindheit denkst? Sicherlich hast du einige Erinnerungen bereits aus Grundschultagen abgespeichert und kannst diese mit ganz konkreten Gefühlen jetzt nachempfinden. Und genauso geht es uns auch. Kinder spüren Stimmungen, insbesondere die der Eltern, oft stärker als Erwachsene. Sie nehmen auf ihre Weise vieles wahr, was Zuhause passiert und laufen Gefahr, ohne Erklärung die Schuld und Verantwortung bei sich zu suchen und zu finden.
Angehörige Kinder als Beobachtungsexpert*innen.
Ein weiterer Punkt, der besonders dafür spricht, mit uns Kindern altersgerecht in den Austausch zu kommen, ist doch, dass niemand sonst so geschult in der Beobachtung des betroffenen Elternteils ist, wie wir es sind. Wir erblicken das Licht der Welt und bauen unsere Existenz um die unserer Eltern auf. Unsere Eltern sind für uns lange Zeit der Richtwert und das Vorbild in Bezug auf alles, was um uns herum geschieht. Wir sind konstant umgeben von ihnen und haben nicht die Chance, uns ihnen zu entziehen. In den ersten Jahren unseres Aufwachsens sind sie unsere maßgeblichen Bezugspersonen und wir kennen aufgrund der präzisen Beobachtung jede Feinheit ihres Selbst – nicht unbedingt des Inneren – aber wenn es um Tonlagen, Stimmungen der Augen oder Mimik und Gestik geht, so nehmen wir kleinste Veränderungen sofort wahr. So können Kinder als Angehörige ebenfalls Expert*innen sein, und das auch bereits in jungen Jahren.
Kinder müssen also nicht allein um ihrer eigenen psychischen Gesundheit willen, sondern auch wegen ihres Beitrages zum Therapieerfolg des Elternteils einbezogen werden. Dafür plädiere ich als Kind psychisch erkrankter Eltern.
In diesem Sinne erhoffe ich mir, dass Menschen den Mut finden, die Kinderstimme wahrzunehmen und sie sprechen zu lassen. Lasst uns offen und auf Augenhöhe miteinander reden. Ich bin mir sicher, dass sich dadurch nicht nur die Beziehungsdynamiken in den einzelnen Familien verändern werden. Auch wird es sich positiv auf die Identitätsfindung sowie das Selbstwertgefühl der Kinder auswirken – und setzt somit an einer der Wurzeln für mehr Selbstfürsorge und Heilsamkeit an.
Weiterer Blogbeitrag zum Thema:
Was brauchen Kinder psychisch erkrankter Eltern? Schätzungsweise leben in Deutschland 3-4 Millionen Kinder mit ihren psychisch kranken Eltern zusammen. Seit Mitte der 90er-Jahre sind Kinder psychisch kranker Eltern unter den Umschreibungen „Kleine vergessene Angehörige“...
Jetzt lesen.