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Wild Swimming, Natursee

Wie Wild Swimming mir in meinem Umgang gegen Depressionen geholfen hat – Ein Erfahrungsbericht

Bei diesem Text handelt es sich um Ellies ganz persönliche Erfahrungsperspektive. Elli findet, dass die Zusammenhänge von Körper und Geist mehr in den Fokus rücken sollten. Deswegen bloggt sie auf understandingly.de über Mind-Body-Techniken im Kontext von Mental Health. Die Recherche-Ergebnisse stammen von Elli und wurden von uns nicht im Detail überprüft. Ihre Erfahrungen mit Wild Swimming sollen nicht als eine Anleitung, sondern vielmehr als eine Anregung verstanden werden. Sollte jemand Lust bekommen, Wild Swimming auch für sich selbst zu entdecken, so ist ein stufenweises Training Bedingung, um in derart kalten Wasser ohne gesundheitliche Schäden zu baden. Eine passende Vorbereitung sowie die Abstimmung mit dem behandelnden Arzt wird empfohlen.

Wild Swimming, Natursee

Wild Swimming, das Baden in wilden Gewässern

Ich gehe einen Schritt in Richtung Wasser. Unter mir knirscht Laub; in der Ferne höre ich einen Schwarm Wildgänse vorbeiziehen. Ich werfe einen letzten Blick zurück zu meinen Klamotten, die an einem Ast hängen und vom Wind leicht hin- und herbewegt werden.

An meinen Unterarmen stellen sich für einen Moment die Haare auf; ich fröstele leicht, aber gleichzeitig bin ich gespannt auf mehr: auf den entscheidenden Wendepunkt im Wasser; auf den Moment, in dem sich für mich alles verändert. Am Flussufer angelangt, zögere ich nicht, sondern steige direkt hinein. Meine Füße sinken in den Sand, während ich bis zur Mitte des Flusses wate und das Wasser um mich herum bis zur Taille ansteigt. Für einen Moment konzentriere ich mich auf meine Atmung. Die Kälte steigt von unten zu mir hoch; ich verliere langsam das Gefühl in den Füßen, und ich weiß, dass das nur der Anfang ist.

Dann hole ich tief Luft und lass mich ganz ins Wasser sinken. Auf Augenhöhe mit der Wasseroberfläche spüre ich, wie sich die Kälte fest um mich schließt. Neben mir treiben ein paar bunte Blätter vorbei. Mein Atem geht schnell, mein Herz rast, und ich schaffe es nicht, an mehr zu denken als das, was ich sehe. Ich treibe einfach nur im Fluss und beobachte, wie sich das Licht an der Oberfläche bricht.

Und dann wird plötzlich alles mühelos. Mein Atem wird ruhig. Ich spüre eine Klarheit und Leichtigkeit in mir aufsteigen. Alles, was vorher war, ist vergessen; das einzige, was es auf dieser Welt gibt, findet jetzt gerade statt. Ich bin aufmerksam, fröhlich, selbstvergessen; Teil des Wassers, Teil der Natur, und eingenommen von einer euphorischen Ruhe, die sich auch danach nur schwer legt.

Man könnte es „High“ nennen. Aber für mich ist dieser Zustand vor allem auch eins: ein Wendepunkt. Der, auf den ich jedes Mal warte, wenn ich wildschwimmen gehe, und der mich trotzdem jedes Mal überrascht – genauso, wie ich manchmal immer noch überrascht darüber bin, dass ausgerechnet ich auf die Seite der Kälte hinübergewechselt bin.

Wie ich zur Kälte kam

Denn früher war ich vor allem: verfroren, verspannt und zumeist in wohlbeheizten Hallenbädern anzutreffen. Aber selbst da habe ich unter der „Kälte“ des Wasser gelitten. Ich habe erst ein Bein ins Wasser gestreckt, dann das zweite; ich habe so lange gebraucht, um ins Wasser zu kommen, dass manchmal sogar fremde Schwimmbadbesucher*innen begonnen haben, mich anzufeuern. Wenn ich dann endlich im Becken war, musste ich erst einmal ein paar Runden in voller Geschwindigkeit schwimmen, um nicht das Gefühl zu haben, zu sterben. Aber dann kam die Depression. Und die Muskelschmerzen. Und eines Tages, beim Duschen, der plötzliche und für mich damals unerklärliche Drang, das Wasser auf ganz kalt zu stellen. Ich habe es getan. Ganz kurz – und dann sofort wieder zurück auf warm.

Aber der angenehme Schock hat einen bleibenden Eindruck bei mir hinterlassen. Und meine Muskelschmerzen waren für eine kurze Zeit vollständig verschwunden. Tatsächlich war der Moment, in dem das kalte Wasser über meine Haut lief, wie ein kurzes Aufwachen aus einem Albtraum. Heute würde ich sagen: Die Kälte hat mich kurzzeitig zurück ins Leben geschockt.

Was die Wissenschaft über Depressionen, Schmerzen & Kältereize weiß

Überrascht von meinem Kurz-Experiment mit mir selbst habe ich begonnen zu recherchieren (Auf welche Erkenntnisse ich gestoßen bin, kannst du hier lesen).

Okay, vielleicht habe ich mich auch in einen kleinen Recherche-Rausch hineingesteigert.

In diesem Rausch habe ich unter anderem herausgefunden, dass die Exposition mit großer Kälte Entzündungswerte senken, sich positiv auf Autoimmunerkrankungen auswirken, dein generelles Stresslevel herunterpegeln, Schmerzen lindern und (yes!) einen positiven Einfluss auf Depressionen und Angsterkrankungen haben kann.

(Speziell auf Depressionen bezogen findest du hier z.B. einen Bericht über Kältetherapie. Darin geht es zwar um Kältekammern, nicht um Wild Swimming, aber der Grundtenor ist der gleiche: dass Kälte extrem hilfreich sein kann.)

Für mich ergab das alles Sinn.

Ich wollte mehr davon. Genauer: Ich wollte „richtige Kälte“; nicht nur kurz abduschen, sondern ich wollte in einem Fluss schwimmen gehen. Im November.

Natursee

„Für mich macht es einen riesigen Unterschied, ob ich Natur „nur“ ansehe oder spüre, wie sich die Steigung eines Berges anfühlt; oder das Wassers eines Flusses.“

How to get started: Vorbereitungen auf das kälteste Erlebnis meines Lebens

Meine Vorbereitungszeit dauerte zwei Wochen: Ich arbeitete mich erst von ein paar Sekunden kalt duschen auf zwei Minuten vor; dann testete ich meine Kälteresistenz mit kalten Wannenbädern, bis ich mich schließlich bereit für den Fluss fühlte. (Wie du dich selbst vorbereiten kannst und worauf du beim Wild Swimming achten solltest, kannst du hier nachlesen.)

Und ich war wirklich bereit. Es war kalt, aber ein großartiges Erlebnis; und merkwürdigerweise gefühlt weniger kalt als mein Wannenbad. Anders als meine Kälte-Erlebnisse in meinem Badezimmer habe ich im Fluss jede Sekunde genossen. Und das liegt, glaube ich, an etwas, was auch die Mut-Tour ausmacht: Natur.

Warum das Eintauchen in die Natur mir so viel bringt

Für mich macht es einen riesigen Unterschied, ob ich Natur „nur“ ansehe oder spüre, wie sich die Steigung eines Berges anfühlt; oder das Wassers eines Flusses. An manchen Tagen ist es kühl und samtig; an anderen eiskalt und stechend. Ein Fluss hat auch seine Launen – und beim Wild Swimming bekommst du sie hautnah mit. 

Was du dabei auch noch bekommst: neue Erkenntnisse (hier kannst du nachlesen, welche Erkenntnisse ich selbst durch den praktischen Versuch gewonnen habe), Perspektivenwechsel, das Gefühl, etwas geschafft zu haben, exklusive tolle Erlebnisse nur für dich; und, wenn es dir mit der Kälte genauso geht wie mir und vielen anderen: eine innere Ruhe, die stunden-, manchmal tagelang anhält.

Für mich hatte diese innere Ruhe, die ich beim Wild Swimming quasi „gratis“ mit dazu bekommen habe, auch noch eine andere Sinndimension: Sie machte mir klar, dass an meinem Leben an sich nichts „falsch“ war. Ich glaube, gerade bei Depressionen kommt man leicht fälschlicherweise zum Schluss, dass man selbst schuld ist, wenn es einem schlecht geht – dass man „positiver denken“ müsste, dass man nur dies & das tun müsste, im Leben ein bisschen aufräumen, und dann „passt“ alles wieder und der Schleier im Kopf lüftet sich.

Aber dadurch, dass sich in meinem Leben gerade gar nichts geändert hatte, außer, dass ich in einem eiskalten Fluss schwimmen war, und ich mich trotzdem plötzlich wieder nicht nur normal, sondern geradezu grandios gefühlt habe, wusste ich: Ich bin nicht das Problem. Mein Leben ist nicht das Problem. Ich konnte plötzlich wieder Distanz zwischen mich und die dunkle Stimmung bekommen – in diesem Fall nicht über kognitive Prozesse, sondern schlicht und ergreifend über körperliche Reize.

Körper und Geist: Mind to Body, und eben auch: Body to Mind!

Mit dieser Entdeckung begann ich, mich auch für anderen Wechselwirkungen zwischen Körper und Geist zu interessieren. Zum Beispiel für Somatopsychologie. Die Somatopsychologie beschäftigt sich mit körperlichen Faktoren, die psychische Erkrankungen auslösen oder verschlimmern können – und sie hat, nicht nur laut dem Somatopsychologie-Forscher Prof. Dr. Erich Kasten, ein Problem: Kaum jemand kennt sie. 

Für mich ist die fehlende Bekanntheit eines so zentralen Faktes symptomatisch: Während heutzutage jeder weiß, dass psychische Prozesse und Erkrankungen sich auch körperlich niederschlagen können, scheint das Gegenteil davon weniger eingängig – dass körperliche Faktoren und Reize eben auch für die Psyche eine wichtige Rolle spielen (können).

Dabei ist eigentlich bekannt, dass die Kommunikation zwischen Körper und Geist keine Einbahnstraße ist und nicht nur von der Psyche aus zum Körper hin funktioniert – gerade auch im Fall von Depressionen nicht. Das zeigen alleine die Forschungen rund um Entzündungen und Depressionen, die ich im Buch „Die entzündete Seele“ von Edward Bullmore eindrucksvoll dargestellt fand.

Möchte ich damit behaupten, dass Depressionen (in meinem Fall oder generell) immer (auch) körperliche Ursachen haben oder körperlich behandelt werden müssen? Auf keinen Fall. Aber: Körper und Geist hängen so eng zusammen, dass der Körper zwangsläufig mit reagiert, wenn die Psyche leidet. Und das heißt oft genug auch: Im Kampf gegen diese Dunkelheit im Kopf kann es sich lohnen, nicht „nur“ an den Gedanken anzusetzen, sondern auch am Körper. 

Wild Swimming ist dafür, so finde ich, das beste Beispiel.

Deine Interesse am Wild Swimming ist geweckt?

Ein weiterer Gastbeitrag von Elli auf nie-mehr-depressiv.de

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