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Mann in den Morgenstunden

Kazım Erdoğan berichtet von seiner Väter- und Männergruppe in Berlin

Aufbruch Neukölln e.V. ist ein Berliner Verein, der im sozialen, schulischen und erzieherischen Bereich tätig ist und zu sozialen, juristischen und psychischen Fragestellungen berät. Unter anderem bietet der Verein eine Väter- und Männergruppe mit türkischen Migrationshintergrund an. Auf der Suche nach einem Themenpaten für die Kategorie Depression und Migration unserer Themenbroschüre “Unter besonderen Umständen”, traf sich Franzi mit Kazım Erdoğan, Psychologe und Gründer von Aufbruch Neukölln e.V. in Berlin Neukölln und bekam einen Einblick in seine Selbsthilfetätigkeiten.

 

Wie kam es zu der Gründung von Aufbruch Neukölln e.V.? Mit welcher Motivation hast Du das Ganze gestartet?

Im Jahre 2007 bin ich auf die Idee gekommen, die erste türkische Väter- und Männergruppe zu gründen, weil ich die Erfahrung gemacht habe, dass wir in einer “Vaterlosen”-Gesellschaft leben, da sich viele Männer und Väter immer noch gerne aus den Bereichen Erziehung und Bildung heraushalten. Außerdem gibt es für Frauen und Mädchen in Deutschland Selbsthilfe-Angebote, wo sie sich austauschen können. Für türkische Männer allerdings gab und gibt es kaum solche Angebote, und dass, obwohl sie genau wie Frauen ihre eigenen Probleme haben, über die sie mit jemanden sprechen wollen. Wenn türkische Männer oder Väter Probleme haben, gehen sie entweder in die sogenannten Männercafés oder sie gehen in die Moscheen und beten fünf mal am Tag, dass der Gott ihre Probleme lösen möge. Meine Erfahrung aus der Männergruppe zeigt, dass die wahren Herausforderungen allerdings am besten durch direkte Kommunikation gelöst werden können, d.h. wenn man zueinander findet und miteinander redet. Hinzu kommt, dass diese Menschen in der deutschen Öffentlichkeit einen ganz schlechten Ruf haben und nicht mit ihnen gesprochen wird, sondern eher über sie gesprochen wird. Und in unserer Gruppe reden wir nun miteinander! 

 

Was denkst du woran es liegt, dass es nicht genügend Angebote für türkischstämmige Männer gibt?

Der Hauptgrund ist und war, dass die Väter selbst das Zepter in die Hand nehmen sollten. Frauen und Mädchen haben durch den Emanzipationsprozess in Deutschland rechtzeitig Dinge in die Hand genommen und sie haben das kontinuierlich weiter ausgebaut. Ein Angebot für und mit Männern auf die Beine zu stellen, ist immer noch verpönt. Bei dem Start meines Pilotprojektes habe ich dann gemerkt, dass es nicht schwer ist, Männer und Väter zu erreichen, diese zu mobilisieren und für die Themen Bildung und Erziehung zu gewinnen. Und wenn man ihnen Angebote macht, sind sie offener denn je – sie fühlen sich wohl, sind ansprechbar und man kann sie für unterschiedliche Themen sensibilisieren. Jetzt, wo wir diese positive Erfahrung gemacht haben, müssen wir es nur schaffen, diese Art von Angebot auf verschiedene Städte zu übertragen, damit wir alle zusammen an einem wahren Wir-Gefühl basteln können.

 

Welche Themen werden in den Selbsthilfegruppen immer wieder besonders stark thematisiert? Sind diese auch kulturgemacht?

Kultur spielt immer bei der Entwicklung und Sozialisierung der Menschen eine Rolle. Man muss erstmal die Kultur gemeinsam definieren. Allein der Begriff Kultur sagt mir nicht viel, sondern erst einmal müssen wir verstehen, was Kultur sein kann. Es ist auch eine Frage, wie stark Verhaltensmuster durch Sitten, Bräuche, Religion und Herkunft geprägt sind. Bei manchen ist der Einfluss weniger stark, bei anderen ist es wiederum das A und O.

In unseren Gruppen haben wir keine Tabuthemen. Es geht um Themen, die für die Gesellschaft, für das eigene Leben, die persönliche Entwicklung oder für die Familie eine Rolle spielen; sie alle kommen auf den Tisch. Auffällig sind allerdings drei Schwerpunkte, die immer wieder thematisiert werden: 

  • zu lernen mit dem Begriff Ehre umzugehen und diesen doch erstmal hohlen Begriff mit Inhalt zu füllen: Was bedeutet Ehre, wer hat Ehre, was macht eine ehrenvolle Persönlichkeit aus und warum hat man uns als türkischstämmige Männer diesen Begriff auferlegt und verpachtet?
  • meine Erfahrung zeigt, dass Suchterkrankungen (Alkohol und Drogen, Spielsucht) bei 90% der Trennungs- und Scheidungsfälle auftauchen, daher können wir das nicht oft genug zur Sprache bringen
  • Gewaltfreiheit in Bezug auf das eigene Leben, Familie und Gesellschaft. Wir wissen, dass 97% der Menschen auf der Welt das weitergeben, was sie selbst erlebt, gesehen, gehört und gelernt haben. Wir werden Gewalt nicht ganz eindämmen können, aber wir können präventiv ansetzen, um Gewalttaten zu reduzieren. Jede Art von Gewalt, sei es physische oder verbale Gewalt, ist eine zu viel und da setzen wir in unseren Gruppen an.
  • Darüber hinaus beschäftigen wir uns mit Erziehungsunterschieden zwischen Jungen und Mädchen, besprechen die Stellung der Frau in der Gesellschaft und reflektieren das eigene Verhalten (aus meiner Männerrolle heraus, als Vater bei Trennung und Scheidung und Verantwortungsübernahme bei den Themen Erziehung und Bildung).

 

Wie stark spielen Identitätskonflikte in den psychischen Herausforderungen der Männer eine Rolle?

Das ist genau der springende Punkt in unseren Gruppen. Identität ist ein Begriff, der sich immer entwickelt. Wenn man mit den Gefühlen zwischen “Baum und Borke” steht, wenn man unter einer Schulter mehrere Wassermelonen tragen muss, dann kann das zu Schwierigkeiten führen. Fragen wie: Wer bin ich und was hat sich in meinem Leben verändert, mit welchen Vorstellungen und Hoffnungen bin ich in dieses Land gekommen und wo bin ich gegen die Wand gefahren, wo konnte ich den Anschluss finden und wie kann die Entwicklung weitergehen, bewegen die Menschen in unseren Gruppen. Gezielt sich mit diesen Entwicklungen und Tendenzen auseinanderzusetzen, ist eine Herausforderung und das kann man am besten lösen, indem man mit mehreren Menschen spricht und sich die Erfahrungen von denen anhört. Der Erfahrungsaustausch kann dazu führen, dass man das Gefühl bekommt: “Mensch, ich bin nicht der Einzige, der dieses Gefühl durchleben muss.” Wenn also bspw. Ali erkennt, dass eine andere Person noch größere Herausforderungen stemmen muss, kann das bei ihm für Erleichterung sorgen.

Mann in den Morgenstunden
Männer der MUT-TOUR auf dem Weg in den Fluss, der Umgang mit Depression ist vielfältig

Ist das die Besonderheit bei Euch, dass Menschen zusammenkommen, die ähnliche Erfahrungen gesammelt haben?

Neben den reinen Väter- und Männergruppen gibt es auch gemischte Gruppen mit Frauen und Männern, wobei nicht alle eine Zuwanderungsgeschichte mitbringen. Es gibt auch eine internationale Vätergruppe, da es uns wichtig ist, nicht nur unter uns zu bleiben. Hier spielt Sprache und Religion keine Rolle. Die drei reinen türkischen Gruppen bieten wir nur an, weil die Mehrheit der Teilnehmer der deutschen Sprache nicht mächtig genug sind und sonst nicht teilhaben können. Die Schwierigkeiten mit der deutschen Sprache kommt daher, weil auch sehr viele durch sog. Heiratsmigrationen nach Deutschland gekommen sind. Mein Ziel ist es aber, noch mehr gemischte Gruppen anzubieten, damit wir nicht den Fokus auf das was uns trennt, sondern eher uns auf das, was uns verbindet, legen.

Wir bieten auch Kommunikationsprojekte an, die mit der Zuwanderungsgeschichte nichts zu tun haben. Zum Beispiel haben wir die erste Woche der Sprache und des Lesens organisiert, da ich denke, dass alles was gut und schlecht läuft, Ergebnisse der Sprachlosigkeit sind. Wir kommunizieren nicht ausreichend miteinander, wir hören nicht richtig zu. Zusätzlich liefern die Medien Bilder oder das was wir gehört haben, sind unsere Beweise für uns nicht bekannte Leben. Die besten und neutralsten Beweise bekommt man allerdings, wenn man mit den Menschen direkt in Kontakt kommt und dabei Ängste und Vorurteile abbauen kann. In diesem Bereich sind wir leider noch ein Entwicklungsland.

 

Wie finden die Leute zu Euch in die Selbsthilfegruppen?

Manche über das Internet, sehr viele über Bekannte und Freunde, manche werden von Jugend- und Familienämtern zu uns geschickt. Das ist komplett unterschiedlich. Aber ich kann sagen, dass circa 80% freiwillig durch Empfehlungen aus ihrem sozialen Umfeld zu uns kommen.

 

Spielen Gefühle wie Angst und Scham eine Rolle, wenn die Leute das erste Mal zu Euch kommen?

Man denkt oder hat die Wahrnehmung, dass man aus einem Stein mehr herausholen kann, als aus einem anatolischen Mann, aber in Wirklichkeit sind sie offener denn je. Eben, weil die Atmosphäre von familiärer Art ist; wenn also jemand, der sich beschämt fühlt, zu uns kommt, merkt er in den ersten fünf Minuten, dass es dafür keine Berechtigung gibt. Das fasziniert mich immer wieder, wie schnell die neuen Gruppenteilnehmer den Anschluss finden. Jedoch nur solange man bestimmte “Werkzeuge” einsetzt, dazu gehören: auf Augenhöhe einander begegnen, eine verständliche und einfache Sprache, den Menschen abholen, wo er steht und sich befindet und eine aufsuchende, offene Arbeit (aufsuchend heißt: immer telefonisch, direkt ansprechen, direkt fragen und handeln). Doch diese Werkzeuge nützen nichts, wenn man nicht die Ersatzteile dabei hat, wie Anerkennung, Akzeptanz, Wertschätzung, Vertrauen und Verständnis. Damit können kleine “Minibrötchen” gebacken werden; jede/r von uns kann somit viele kleine “Minibrötchen” backen. Das Problem ist, wir bleiben nicht am Ball. Wir reden immer wieder darüber, dass alle Menschen in der Welt wunderbare Vorbilder sind, aber wir verhalten uns nicht vorbildhaft. Wir sind alle Schätze – auch die Erkrankten, auch die Menschen, die mit Depressionen zu tun haben. Wir sind alle Schätze, aber eins haben wir noch nicht geschafft, diese Schätze aus den Individuen herauszukitzeln.

Wir sind am Anfang des Prozesses; wir sind immer noch ein Entwicklungsland im Bezug darauf, über Gefühle und Herausforderungen zu sprechen, da es immer noch als Schwäche gesehen wird. Obwohl es eben keine Schwäche ist, darüber zu sprechen, sondern es ist eine Stärke, wenn ein Mensch kommt und Hilfe sucht. Das Hauptproblem besteht darin, dass in manchen geschlossenen Gesellschaften – wie türkische, arabische (ich verallgemeinere) – immer gesagt wird: erzähle deine persönlichen Probleme nicht den fremden Menschen, gehe nicht zum Jugendamt etc.; d.h. alles ist problembehaftet. Auch in meinem Geburtsdorf wurde gesagt: “erzähle nicht von deinen Problemen, die Nachbarn werden das wie Kaugummi kauen”. So eine Haltung führt dazu, dass irgendwann die Herausforderungen als unlösbar erscheinen. Die Menschen, die zu uns kommen, haben das kapiert und sind dadurch offen und freuen sich. Doch das ist nur ein Bruchteil dessen, was wir erreicht haben und deswegen müssen wir wie ein Obstverkäufer mit beiden Händen innerhalb einer Obstkiste immer wieder die verfaulten Früchte herausholen und die anderen schönen Äpfel polieren, sodass sie uns und andere von der Entfernung ansprechen und anlächeln. Diese Atmosphäre sollten wir schaffen – auch gesamtgesellschaftlich.

 

Wie empfindest du die Berichterstattung, ist diese immer noch stark von Vorurteilen geprägt?

Die Pauschalisierungen gehen mir gegen den Strich. Das gefällt mir nicht und ich habe das Gefühl, dass alles was positiv läuft, nicht ausreichend dargestellt wird. All das, was nicht klappt, wird in den Vordergrund gestellt. Zum Beispiel, wenn irgendjemand mit Zuwanderungsgeschichte etwas anstellt, verwandelt es sich zu schnell in einen “Ehrenmord” im Vergleich zu einer deutschen Gewalttat, die dann als “Familientragödie” betitelt wird. Hinzu kommt, dass ein Teil der Menschen mit Zuwanderungsgeschichte, die ihre Stimme in der Presse erheben und dabei nicht bei ihrer Einzelfallgeschichte bleiben, dafür sorgen, dass ein allgemein gültiger Eindruck entsteht, den wir nicht gebrauchen können. Die Bilder sind zu eintönig. Auch den Begriff Identität zu beschreiben ist wichtig. Fragen zu stellen nach “was macht meine Identität mit mir?”. Am Ende geht es um eine facettenreiche Berichterstattung mit vielen Einzelfallgeschichten.

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