Gefährten mit Bärten – MENtal Health Advocates
Max und Jan haben gemeinsam das Projekt Gefährten mit Bärten gegründet. Dieses Projekt stellen sie uns hier vor und erzählen dabei auch von ihren eigenen Erfahrungen mit psychischen Erkrankungen.
Moin ihr Lieben | Die Gefährten mit Bärten
Vielen herzlichen Dank, dass wir uns und unser Projekt hier bei euch vorstellen dürfen.
Wir, Max und Jan, haben zusammen das Projekt Gefährten mit Bärten gegründet, denn gemeinsam haben wir eine Vision: Die Entstigmatisierung psychischer Erkrankungen vorantreiben durch Empowerment – für mehr Offenheit, Verständnis und Empathie im Umgang mit mentaler Gesundheit im Allgemeinen und bei Männern im Speziellen.
Wie kamen wir darauf, ein Projekt zu mentaler Männergesundheit zu starten?
Jedes Jahr nehmen sich in Deutschland fast 10.000 Menschen das Leben. Wusstet ihr, dass 3/4 davon Männer sind und mehr als die Hälfte davon depressive Episoden durchleben?
Die Gründe sind vielfältig: Wenig Bewusstsein und Akzeptanz (insbesondere bei Männern), zu geringe Kapazitäten des Versorgungssystems, Stigmatisierung erkrankter Personen, tradierte Rollenbilder, gesellschaftliche Erwartungshaltungen etc.
Wir haben beide unsere eigenen Erfahrungen gemacht, die stellvertretend zeigen sollen, wie individuell Depressionen und psychische Erkrankungen im Allgemeinen sein können. Zudem wollen auch wir den Schritt wagen, uns zu öffnen und mutig mit unseren Geschichten für all jene in die Bresche springen, die den Schritt noch nicht gehen können oder wollen. Um unsere Motivation und Hintergründe besser verstehen zu können, teilen wir diese nun mit euch.
**TRIGGERWARNUNG**
Wir möchten vorab eine Triggerwarnung aussprechen, da wir mittlerweile relativ offen mit unseren persönlichen Erlebnissen umgehen. Im Folgenden werden unter anderem unsere Erfahrungen mit Suizid thematisiert. Wenn jemand von euch mit schweren Negativspiralen oder Gedanken an den eigenen Tod spielt, so kontaktiert bitte die bundesweite anonyme Telefonseelsorge unter 0800 1110111 oder sprecht mit jemandem darüber, dem ihr vertraut.
Max und Jan haben gemeinsam das Projekt Gefährten mit Bärten gegründet.
Die Wege der MUT-TOUR und der Gefährten mit Bärten kreuzten sich dieses Jahr in Niedersachsen und es kam zu einem schönen Treffen.
Max macht nun den Anfang in der Vorstellung:
Ich bin in einer sehr ambivalenten Gefühlswelt aufgewachsen, mit einer sehr fürsorglichen und liebevollen Mutter und einem Vater, dem ich es “nicht recht machen konnte”. Es gab selten einen Moment, in dem er Lob oder Anerkennung aussprechen konnte. Meistens kam eher die Frage, wieso die Leistungen nicht noch besser gewesen seien. Das hat sich so in mir manifestiert, dass ich diesen Druck bis heute mit mir herumschleppe. Naja. So viel zum Grundstein meines Selbstkonzepts, “nicht gut genug” zu sein. Darüber hinaus war ich schon immer sehr ängstlich. Viele irreale Ängste haben mich bereits als Kind geplagt. Die Weite des Universums, die Vorstellung der Unendlichkeit und die Angst vor dem Tod waren erstmal die kleineren Übel. Verlustängste haben zu dem Zeitpunkt dominiert. Heute weiß ich, dass vieles mit den ambivalenten Gefühlen in mir zu tun hatte.
Die Familiendynamik veränderte sich und damit auch mein Innenleben
Das erste Mal den Boden unter den Füßen weggerissen hat mir die Erkrankung meiner Mutter. Als ich 14 Jahre alt war, wurde bei ihr, nach vermehrten Krankenhausaufenthalten und zunächst physisch nicht zuzuordnenden Symptomen, das damals sehr im Trend liegende Burnout-Syndrom diagnostiziert. Danach änderte sich bei uns daheim vieles. Meine Mutter war emotional die tragende Säule unserer Familie, welche plötzlich wegbrach. Überfordert von meinen Gefühlen entwickelte ich eine Angst- und Panikstörung. Ich hatte auf einmal irrsinnige Angst, mein Herz könnte plötzlich stehen bleiben. Mit 14 Jahren. Diese Angst zog sich über Jahre, behandelt wurde es zunächst nicht. Ich lernte, irgendwie damit umzugehen, aber weg ging das beklemmende Gefühl nicht.
Meine Eltern trennten sich, die Ängste verlagerten sich und die Jahre gingen ins Land. Immer wieder gab es Komplikationen mit mir und in mir (z.B. Krankenhausaufenthalte aufgrund Psychosomatik) und ich schob es immer weiter vor mir her. Dann kam das Jahr 2015. Ich lernte meine damalige Freundin kennen. Ihr Ex-Freund hatte wohl mit ähnlichen “Herausforderungen” zu kämpfen und sie zog zunächst ganz schön darüber her. Sie brachte wenig Verständnis dafür auf, was in mir exorbitanten Druck auslöste. Ihre Erwartungshaltung an mich, ihren Freund, und an das, was in meiner Gefühlswelt abging, ließen meine Seele implodieren.
Es war Februar 2016, ich war auf einem sechswöchigen Seminar. Nach ca. drei Wochen, mitten während des Seminars, fingen meine Zwangsgedanken an. Zwangsgedanken, die sich nur um meine vermeintliche Unzulänglichkeit ihr gegenüber drehten. Ich konnte nicht schlafen und lag nächtelang fast komplett wach. Nach einer Woche zog ich die Reißleine: Heimfahrt. Ich hielt durch. Ich hielt so lange durch, bis ich bei meiner Mutter und meinem Stiefvater ankam. In dem Moment, als ich die Türschwelle übertrat, platzte es aus mir heraus. Es war ein wirklicher Zusammenbruch. Mein Akku war so leer, dass ich auf dem Wohnzimmerteppich lag, weinte, schluchzte, sich alles drehte und ich nicht mehr alleine aufstehen konnte. Wie lang das so ging? Ich weiß es nicht, ich hatte kein Zeitgefühl. An alles kann ich mich auch nicht mehr erinnern. Ich weiß aber noch, dass meine Mutter unsere Hausärztin anrief. Wir fuhren in die psychiatrische Klinik bei uns im Ort. Zuerst hieß es, dass kein Bett frei sei. Frühestens in sechs Wochen wieder. Zum Glück (!!!) bin ich privat zusatzversichert (und das ist mitunter das Lächerlichste an der ganzen Geschichte). Sechs Wochen hätte ich so nicht mehr geschafft. Ich wollte mir nichts antun. Ich wollte nur, dass das Gedankenkarussell in meinem Kopf endlich stoppt. Ich wollte schlafen und einfach innerlich zur Ruhe kommen.
All das passierte an einem Freitag. Für den nächsten Montag bekam ich aufgrund meiner Zusatzversicherung ein Bett und für das Wochenende Beruhigungsmittel mit nach Haus.
Mit der psychiatrischen und psychotherapeutischen Behandlung kehrte langsam Ruhe ein
Vier Monate Klinik (davon ein Monat stationär) und vier Jahre Verhaltenstherapie später sitze ich hier und schreibe diesen Text. Heute bin ich dank meiner Therapie und der Medikamente stabil. Aber geheilt sein werde ich nie. Ich habe zu lange gewartet und mir zu spät professionelle Hilfe gesucht. Zunächst aus Unwissenheit, später aus Scham, Angst und einer kleinen Portion Ignoranz, frei nach dem Motto, dass ich es schon allein schaffen würde.
Das sind alles Dinge, die ich insbesondere mit dem männlichen Teil der Bevölkerung teilen möchte. Und so habe ich meine Erfahrungen auch mit Jan geteilt. Und siehe da, es gibt in unseren beiden Geschichten ziemliche Schnittmengen, die den Grundstein für unser Projekt “Gefährten mit Bärten” gelegt haben. 🙂
Nun aber zu dir, mein lieber Jan:
Danke Max für deine Offenheit. In meiner Kindheit hatte ich oft das Gefühl, um Aufmerksamkeit kämpfen zu müssen. Insbesondere durch sportliche und schulische Leistungen konnte ich mir einen regelmäßigen Nachschub an Anerkennung und wahrgenommen werden sichern, was aber in der Pubertät irgendwann in eine absolute Resignation und Ermüdung umschlug. Das mündete kurz darauf in die erste längere depressive Phase meines Lebens, was mir damals aber in keinster Weise bewusst war.
Sport war das Ventil meiner Depression
Nach und nach konnte ich die Probleme durch Sport und exzessives Verhalten verdrängen und den schwarzen Hund in die hinterste Ecke meines Bewusstseins verbannen. Aber natürlich kam er in unregelmäßigen Abständen immer wieder hervor. Meist wenn ich mal längere Zeit zur Ruhe kam. Von Mal zu Mal war er ein bisschen größer und grimmiger. Umso stärker versuchte ich, mich mit Arbeit und Aktivitäten zu beschäftigen und Aufmerksamkeit durch mein Umfeld zu erhalten.
Vor nun fünf Jahren kumulierte die ganze Verdrängerei und Kompensierung in der stärksten und längsten Phase maximaler Antriebs- und Mutlosigkeit. Rückblickend kann ich es wirklich Lebensmüdigkeit nennen. Nach einem viel zu langen Arbeitstag, zu dem ich mich durch stundenlange Selbstmotivation am Morgen ausnahmsweise mal wieder aufraffen konnte, blieb die Frage: “Warum lohnt es sich weiterzumachen” zum ersten Mal nach Jahren für mich unbeantwortet und der Arbeitstag endete für mich in der Leitplanke. Als ich im Schock-Raum des Krankenhauses wieder zu mir kam, war mein erster Gedanke: “Scheiße Junge, wie dumm bist du eigentlich, dein Leben wegzuwerfen?”. Diese Frage begleitet mich zum Glück bis heute, denn wie ein Mantra gibt sie mir immer wieder Kraft und Mut, weiterzumachen und mich auf die positiven Aspekte des Lebens zu fokussieren.
Nach dem Krankenhausaufenthalt, in dem ich zum Glück eine psychiatrische Akuttherapie erhalten durfte, habe ich mich in therapeutische Behandlung begeben, damit ich meine mentale Gesundheit gemeinsam mit einem Experten wieder stabilisieren konnte. Denn was ist daran so verwerflich oder schlimm, Hilfe anzunehmen? Bei einem Herzinfarkt oder Armbruch gehen wir doch auch zu Ärztinnen, um Hilfe zu erhalten?!
Neuausrichtung des inneren Kompasses als Therapiebaustein – ein Versuch weg von schnell, schnell zu bewusster im Hier und Jetzt
Danach habe ich mich gezwungen, zumindest vorübergehend aus dem Hamsterrad zu springen und mein Leben ganz bewusst für sechs Monate entschleunigt. Ich habe einen langgehegten Wunsch umgesetzt und einen Motorrad-Führerschein gemacht (Ironie pur nach der Vorgeschichte?!). Kaum in der Tasche, wurde die erste Tour geplant, die dann direkt nach Portugal gehen sollte und sich zu einer Spendenfahrt für die DKMS entwickelt hat. Denn ich wollte das Privileg, noch am Leben sein zu dürfen sowie genug Ressourcen und Energie für den Lebensumbruch zur Verfügung zu haben, irgendwie mit etwas Gutem für die Gesellschaft verbinden. Auf dieser Fahrt war ich allein unterwegs und konnte so ganz gezielt mein bisheriges Leben reflektieren, an mir und meinen Problemen arbeiten, den Fokus auf das, was mir Energie bringt, legen und hatte am Ende meinen inneren Kompass rekalibriert. Ich habe sozusagen ein Gentlemen’s Agreement mit meinem schwarzen Hund geschlossen.
Ungefähr zu diesem Zeitpunkt habe ich Max über den Handball kennengelernt. Anfangs haben wir eigentlich nur über Handball und Motorrad fahren gequatscht, da er ebenfalls dabei war, eine Spendenfahrt zu planen. Mit der Zeit wurden unsere Gespräche aber intensiver und drehten sich zunehmend um unsere mentale Gesundheit sowie unsere Erfahrungen mit psychischen Krisen. Aus der anfänglichen Idee einer gemeinsamen Motorradtour entwickelte sich so Stück für Stück die Vision, eine längerfristige gemeinsame Reise anzutreten -, eine Reise zu mehr Bewusstsein, Transparenz und Akzeptanz für mentale sowie psychische Erkrankungen.
So wurde aus einer Spendenfahrt mit dem Motorrad das Projekt “Gefährten mit Bärten”, in das wir viel Herzblut und natürlich auch Tränen investieren.
Also long story short 🙂
Aus unseren persönlichen Erfahrungen heraus, die wir durch Profession und Wissenschaft ergänzt haben, kamen wir gemeinsam zu der Erkenntnis, dass unsere Gesellschaft mentale Gesundheit noch immer zu wenig thematisiert und die Stigmatisierung psychischer Erkrankungen eher die Regel ist.
Das macht uns zu Überzeugungstätern in der Arbeit für mehr Bewusstsein und Akzeptanz beim Thema mentaler Gesundheit. Dabei wollen wir uns gegenseitig und hoffentlich auch anderen MUT machen. Ihr und all die Menschen da draußen machen uns jedenfalls sehr viel Mut, weiterzumachen!
Und als weitere Ergänzung kommt der Bart ins Spiel
Unser primäres Ziel ist es daher auch, mit unserem Projekt mehr Bewusstsein für mentale Gesundheit zu schaffen, sowohl bei den Männern (den “Bärtigen”), als auch in der gesamten Gesellschaft (quasi den Gefährten und Gefährtinnen). Denn unter anderem, weil viele gesellschaftliche Domänen lange Zeit männlich geprägt waren und teilweise noch immer geprägt sind, fehlt es an der Fähigkeit, sich Schwächen zuzugestehen, sie zu akzeptieren und auf gesunde Art und Weise damit umzugehen.
Wichtig ist uns allerdings, dass unser Projekt kein closed shop ist, sondern inklusiv allen Menschen offensteht, nicht nur einem bestimmten Geschlecht. Denn wir sind uns sicher, dass vor allem über den Austausch zwischen uns Menschen und allen Geschlechtern sowie weitergedacht in den gemeinsamen Entwicklungen sehr viel Potential schlummert!
Aktuell ist alles noch ein bisschen im Fluss und wir sind noch nicht ganz sattelfest, was manche Prozesse und Ideen angeht, aber wir lassen uns ein bisschen von diesem Fluss mittragen und akzeptieren, wenn Dinge einfach passieren.
Eine jährliche Motorradtour ist aber als Konstante in unserem Projekt fest eingeplant, unter anderem mit dem Ziel, Spenden für die vielen Organisationen und Vereine in diesem Bereich zu sammeln.
Und wer weiß, vielleicht sind wir irgendwann so weit, selbst einen Verein zu gründen, um noch konkreter und aktiver die mentale Gesundheit in Deutschland zu stärken?!
Denn bisher haben wir ja nur an der Oberfläche gekratzt. Doch wir wollen weiter mutig Licht in das Dunkel bringen, selbst mehr über das weite Feld mentaler Gesundheit erfahren und diese Erkenntnisse mit den Menschen teilen. Denn unsere zentrale Überzeugung ist, dass Wissen und Bewusstsein immer der erste Schritt auf dem Weg zu Einsicht und Veränderung sind. Dazu haben wir schon Spotlights auf bestimmte Erkrankungen geworfen, was wir in den nächsten Monaten noch ausbauen wollen.
Highway to Health | Spenden sammeln für die “Freunde fürs Leben”
In diesem Jahr setzten wir unseren thematischen Schwerpunkt zunächst auf den Bereich Depressionen und Suizid, was sicherlich der eigenen Lebensgeschichte geschuldet ist.
Daher drehte sich unsere diesjährige Spendentour “Highway to Health” rund um Depression und rund um Deutschland. Vom 09. – 25.07.2021 sammelten wir für den Verein Freunde fürs Leben e.V. Geld, damit die engagierten Menschen dort auch weiterhin so wunderbare und wichtige Arbeit machen können.
Nächstes Jahr wird die „Highway to Health“ mit neuem thematischen Fokus und Spendenziel wieder starten. Mehr dazu erfahrt ihr zu gegebenen Zeitpunkt z.B. bei Facebook oder Instagram.
Was ist die Verbindung zur MUT-TOUR?
Relativ am Anfang unseres Projektes hatten wir bereits Austausch mit Laura und Franziska von der MUT-TOUR und stehen seitdem in engem Kontakt. Dieser Austausch hat uns sehr viel Kraft gegeben und dafür gesorgt, dass wir selbst uns etwas weiter öffnen konnten. Die MUT-TOUR hat uns in unserem Ansatz bestärkt und ihr seid quasi mit dafür verantwortlich, dass wir bereits in die “Highway to Health” Tourenplanungen für die nächsten zwei Jahre gehen.
Wir bewundern eure Arbeit sowie die Kontinuität und den Mut, mit dem ihr für mehr Offenheit und Akzeptanz im Umgang mit Depressionen sorgt. Und auch wenn wir dieses Jahr nicht selber mitlaufen oder fahren können, freuen wir uns sehr darüber, euch auf eurer Etappe in Niedersachsen getroffen zu haben. Denn da kreuzten sich die Wege der MUT-TOUR und der Gefährten mit Bärten, so wie sich unsere Wege vorab kreuzten und hoffentlich auch in Zukunft noch oft kreuzen werden: Im gemeinsamen Bestreben, den Menschen Mut zu machen, offen zu ihrer Erkrankung zu stehen sowie ihrem Umfeld und der Gesellschaft in Gänze, Stück für Stück die Relevanz eines akzeptierenden und empathischen Umgangs näherzubringen.
Also bleibt gesund, werdet gesund, passt auf euch und eure Liebsten auf – und vielleicht bis bald!
Eure Gefährten mit Bärten
Max und Jan