Momente und Gedanken in einer MUT-TOUR-Etappe, die während eines Presseinterviews entstanden sind
Schutz vor Fremd- und Selbst-Stigmatisierung
Die Interviews mit Journalist*innen und damit teils auch Treffen mit Fotograf*innen sind immer wieder interessant. Manche wissen schon sehr viel über das Thema psychische Gesundheit, einige sind oder waren selbst von psychischen Erkrankungen betroffen. Teils sind wir von der MUT-TOUR aber auch eine der ersten Kontaktpersonen, die sehr offen über ihre jeweiligen Erfahrungen berichten. Auch das führt bisweilen zu lustigen oder auch leicht schockierenden Momenten. Beispielsweise, wenn dann ganz überrascht geschaut wird, wenn ich deutlich benenne, dass ich Erfahrung mit Depressionen habe: „Was?? Du?!!“ Ich denke mir dann: Ja! Wie muss ich denn bitteschön aussehen, wenn ich Depressionserfahrung habe?! Taschentuch in der Hand und in Tränen aufgelöst? Das, so scheint es mir in solch einem Moment, sollte wohl das Mindeste an Depressionssymbolik für die Journalist*innen sein.
Diese Art von Begegnung empfinde ich persönlich aber noch als eher lustig bzw. positiv aufklärend. Denn, so hoffe ich, ist mein Gegenüber danach etwas dafür sensibilisiert, dass psychische Erkrankungen, vor allem, wenn sie der Vergangenheit angehören, nicht optisch sichtbar sein müssen oder zumindest in bestimmten Situationen gut “überspielt” werden können.
Worte haben Macht und können an Überzeugungen über einen selbst stark rütteln.
Eine etwas andere Begegnung hatte ich bei einer meiner diesjährigen Etappen. Wir wurden in einer Stadt herzlich von der örtlichen Selbsthilfekontaktstelle, vom Bündnis gegen Depression und sogar vom Oberbürgermeister empfangen. Dieser hielt im kleinen Kreis eine wertschätzende Ansprache. Plötzlich bemerkte ich, dass offensichtlich ein Fotograf dazu gekommen war, denn ein Mann begann wie wild mit seiner Spiegelreflexkamera Fotos von uns zu schießen. Da es in diesem Moment sehr unhöflich gewesen wäre, mich entweder demonstrativ umzudrehen, oder aber die Smileys für visuelle Anonymität, die wir für unsere Pressebilder verwenden, aus der Fahrradtasche zu holen, beschloss ich, das Ende der Rede abzuwarten. Anschließend ging ich auf den Fotografen zu und teilte ihm mit, dass er doch bitte nur die Fotos verwenden möge, auf denen mein Gesicht nicht direkt zu erkennen ist. Ich wollte auch den Hintergrund der Smileys etc. erklären, doch so weit bin ich gar nicht gekommen – der Fotograf entgegnete mir sehr entschieden, es handle sich hierbei um eine Veranstaltung und da greife mein Persönlichkeitsrecht nicht. Er würde die gemachten Bilder selbstverständlich verwenden. “Da könnte ja jede*r kommen…” Daraufhin von mir wieder ein Versuch, mit den Smileys zu starten – nach drei Wörtern seine Entgegnung: „Sie haben sich aktiv dafür entschieden, zum Thema Depression unterwegs zu sein – da müssen Sie auch dazu stehen!“
Aua, das tat weh!
Die Diskussion war für mich damit auch erstmal beendet, denn ich merkte, wie mir die Tränen kamen – und verweint mit ihm diskutieren wollte ich dann doch auch nicht. Mein Glück war, dass unser Tourleiter sich der Sache annahm und so gut bzw. ausdauernd argumentierte, dass der Fotograf zusicherte, nur Bilder ohne mein Gesicht bzw. mit Smiley zu verwenden.
Einer Offenheit im Umgang mit der eigenen Depressionserfahrung stehen Ängste vor möglichen Folgen im Weg.
Innerlich war aber doch nicht alles okay, denn der Fotograf hatte mit seiner Aussage einen sehr wunden Punkt bei mir zielsicher getroffen. Denn „zu mir und meinen Erfahrungen mit Depression etc. stehen“ kann ich momentan (noch) nicht – zumindest nicht in der Art und in dem Umfang, in dem ich es selbst gerne möchte und in dem es für die Foto-Situation auch notwendig gewesen wäre.
Während unserer Presseinterviews haben alle Teilnehmenden die Möglichkeit anonym zu bleiben. Unser Smiley ist sogar sehr wichtig für unsere Pressearbeit, denn er wirkt stellvertretend für viele Menschen, die aus verschiedensten Gründen nicht öffentlich über ihre Erfahrungen mit psychischen Erkrankungen sprechen können.
''Ich habe dabei die Erfahrung gemacht, dass es für mich absolut notwendig ist, immer wieder aufs Neue die Entscheidung zu treffen, dass ich diese Stigmata für mich nicht mehr länger akzeptieren möchte. Einfach, weil ich es mir wert bin und mich stattdessen mutig für einen neuen, mit mir selbst freundlicheren und faireren, aber auch ungewohnten Umgang entscheide.''
Zu groß ist die Angst vor den ungewissen Folgen, zu groß sind die Scham- und Schuldgefühle für das, was ich erlebt habe.
“Nett” ist es auch, wenn man dann von anderen gesagt bekommt, man könne doch ruhig dazu stehen, in der heutigen Zeit sei das doch alles kein Problem mehr. Nun ja, sobald es denn tatsächlich kein Problem mehr ist, dann bin ich eine der ersten, die aufspringt und glücklich hin und her springt. Die Aussage bewirkte in mir aber vor allem eines: Eine tiefe Verunsicherung, ob ich vollkommen übertreibe, gar Sachen sehe, die überhaupt nicht existent sind – ich jedenfalls sicher nicht in der Lage bin, die Realität halbwegs angemessen einzuschätzen. Oder ganz klassisch: dass ich zu labil bin und gar nichts mehr ab kann.
Wem soll ich denn vertrauen, wenn ich mir und meinen Gedanken/Einschätzungen nicht mehr vertrauen kann?
Sicher, oft schätze ich Situationen sehr subjektiv ein. Das liegt zu einem großen Teil aber auch daran, dass gerade solche sozialen Situationen, in denen es um den Umgang mit psychischen Erkrankungen geht, wahnsinnig undurchsichtig und verwirrend sein können. Gedanken lesen kann ich nicht und durch diverse Erfahrungen bin ich eventuell auch etwas übersensibel und vorsichtig geworden. Ich kann dies aber auch als Schutzfunktion meiner Psyche verstehen und würdigen, denn wenn ich dadurch weniger von mir preisgebe, kann ich auch nicht so sehr verletzt werden – soweit zumindest die Argumentation meines Verstands.
Und, ob man es zwingend als labil bezeichnen muss, wenn ich mir negative Zuschreibungen zu Herzen nehme, weiß ich auch nicht. Ich nenne es lieber „menschlich“ – trotzdem tue ich gut daran, an mir zu arbeiten, um solche Aussagen künftig einfach als die Person weiß es nicht besser und hat zu der Sache auch eigentlich gar nichts zu sagen, abspeichern zu können.
Welche Folgen könnten noch auf mich warten, wenn ich offen zu meiner Depressionserfahrung stehe?
Bei einigen Arbeitgebern ist Mensch mit psychischer Erkrankungsgeschichte oft nicht so beliebt – klar, Menschen mit Depressionserfahrung sind schließlich faul, etwas inkompetent und auch einfach nicht sonderlich vorzeig- und beherrschbar (diese Auflistung kann nahezu endlos fortgeführt werden). Kompliziert ist auch, dass Betroffene nie wissen können, wie der*die Arbeitgeber*in reagiert. Zwischen herzlich und empathisch/verständnisvoll, also unterstützend und potentiell genesungsfördernd – bis hin zum Rausmobben ist alles möglich. Es ist in der heutigen Zeit also immer noch sehr mutig, sich in der Arbeitswelt zu öffnen. Merke: Es gibt durchaus gute Gründe, mit dem Teilen solcher Erfahrungen vorsichtig zu sein bzw. die Entscheidung gut zu überdenken.
Ich selbst bin im sozialen Bereich tätig. Vorurteil und no-go zugleich ist, dass dort alle selbst ein bisschen „psycho“ sind oder das nur machen, um sich selbst zu therapieren. Das ist sehr schade, denn auch im sozialen Bereich arbeiten nunmal Menschen und als Mensch gehören psychische Herausforderungen – manchmal eben auch eine Erkrankung – dazu. Das kann, vor allem, wenn die Krise überstanden ist, auch eine wertvolle Ressource sein. Diese kann jedoch nur bedingt genutzt werden, wenn in der Organisation eine derartige Erfahrung als großes Manko gesehen wird.
Dadurch, dass Pressebilder auch online verfügbar sind und damit so schnell nicht wieder vergessen werden, ist es vielleicht etwas verständlicher, dass „dazu stehen“ in oben genannter Situation auch schwierig sein kann.
Scham- und Schuldgefühle als fester Bestandteil von Selbststigmatisierung
Oben hatte ich noch die Scham- und Schuldgefühle angesprochen, die in der Situation hochkamen. Entstanden sind diese zum großen Teil durch Selbststigmatisierung – ich richte also die ganzen Vorurteile, die Mensch, wenn er*sie in Deutschland aufwächst, meist über Menschen mit psychischen Erkrankungen mitbekommt, gegen mich. Denn durch meine Diagnose gehöre ich ja jetzt auch zu den “inkompetenten, faulen Depressiven”.
Kognitiv kann ich das komplett ablehnen, denn ich weiß mittlerweile auch, dass Selbststigmata durch den Umgang mit psychischen Erkrankungen in der Gesellschaft gefördert werden können und es eben keine Wahrheit ist. Emotional ist das aber extrem schwierig, da meine negativen Glaubenssätze sehr tief in mir verankert scheinen und nur mit viel Zeit und Geduld langsam veränderbar sind. Ich habe dabei die Erfahrung gemacht, dass es für mich absolut notwendig ist, immer wieder aufs Neue die Entscheidung zu treffen, dass ich diese Stigmata für mich nicht mehr länger akzeptieren möchte. Einfach, weil ich es mir wert bin und mich stattdessen mutig für einen neuen, mit mir selbst freundlicheren und faireren, aber auch ungewohnten Umgang entscheide.
Während unserer Etappen kommen wir mit verschiedenen Journalist*innen ins Gespräch. So verschieden wie die erzählenden Menschen sind, so sind es auch die Fragenden. Und so kann es auch wie im Fall von Franka, zu irritierenden Momenten kommen. Oftmals bemerkt unser Gegenüber dann gar nicht, welch komplexe Gedankengänge einzelne Fragen in Gang setzen können. Auch dafür wollen wir sensibilisieren.
Meine Selbststigmatisierung erzeugt manchmal in mir einen Drang zur Selbstoptimierung.
Ein weiterer Effekt daraus ist, dass ich das Gefühl habe, ich müsste mich extra beweisen, um eben dieses Manko meiner Psyche auszugleichen und damit wieder etwas mehr Wert zu gewinnen. Interessanterweise wirkt das bei mir sogar in Situationen, in denen mein Gegenüber nichts von meinen Erkrankungen weiß. Überzeugungen in mir sagen, dass meine Mitmenschen mir diese dennoch ansehen und auch sofort merken, dass ich ein “schlechter” Mensch bin. Das alles ist der Psyche natürlich auch nicht zuträglich, weil es zusätzlichen Stress für mich bedeutet. Die Energie möchte ich lieber zur Entwicklung von Resilienz nutzen.
Und dazu braucht es manchmal auch einen Weckruf – einen Realitätscheck, der beweist: die Hoffnung bleibt! Dafür nehme ich mir oft viel Zeit zum Reflektieren und achtsamen Wahrnehmen. Besonders belastende Gedanken, die aufkommen, versehe ich dabei gerne mit dem Zusatz „Die Geschichte, die ich mir gerade erzähle…“. Das hilft mir, etwas Distanz aufzubauen, um den Wahrheitsgehalt besser checken zu können. Daraufhin kann ich mich bewusst entscheiden, ob bzw. wie viel Glauben ich dem Gedanken schenken und damit Macht über mich geben möchte. Denn manchmal sind die Kosten einfach viel zu groß, als dass sie gegenwärtig oder zukünftig für mich tragbar wären. Dennoch rutsche ich schnell in eine Spirale der Selbstabwertung und -kritik. Dieser setze ich dann bewusst Selbstmitgefühl entgegen – sie können nicht zeitgleich existieren.