Als würden die Dementoren von Harry Potter kommen
Dörte, du bist bei der diesjährigen MUT-TOUR dabei. Möchtest du dich in einem Satz mal kurz vorstellen?
Ich bin Dörte aus Sandersdorf und ich bin depressionserfahren.
Inwiefern? Bist du angehörig oder selbst betroffen?
Ich bin selbst betroffen. 2018 war ich das erste Mal in einer psychiatrischen Klinik, was mir sehr gut getan hat. Die Zeit dort hat mir geholfen, besser auf mich aufzupassen, zu lernen, klare Grenzen zu setzen und damit auch aus der Depression wieder rauszukommen.
Und wie bist du zur MUT-TOUR gekommen?
Nach dem Klinikaufenthalt habe ich nach einer Möglichkeit zum Austausch gesucht. Erst suchte ich online nach einer Selbsthilfegruppe, aber dabei fand ich für mich nichts Passendes. Dafür fand ich dann die MUT-TOUR. Und dann dachte ich: „Oh ja, das ist ja toll – draußen sein, mit anderen Leuten zusammen und dabei noch zum gleichen Thema unterwegs sein. Dabei kann man sich bestimmt auch gut austauschen.” Und dann habe ich mich dort gemeldet, eine Rückmeldung bekommen und bin letztes Jahr das erste Mal bei einer Tandemetappe mitgefahren.
Also eine zweite Runde 🙂 Welche Rolle nimmst du denn dieses Jahr bei der Tour ein?
Durch meine Etappenerfahrung vom letzten Jahr kenne ich die Abläufe des Touralltags schon und diesmal fahre ich auch vorne auf dem Tandem mit, als Pilotin. Letztes Jahr bin ich noch hinten gefahren, das fand ich auch sehr schön, da ich mehr von der Umwelt mitbekommen konnte. Und dieses Jahr habe ich mal probiert, vorne zu fahren.
Dörte war dieses Jahr das zweite Mal mit der MUT-TOUR unterwegs. Hier sieht man sie auf der diesjährigen Etappe als Pilotin, so wird die Person genannt, die vorne fährt. Sie spricht in diesem Beitrag von ihrer Tandemetappe und wie sie Depressionen erlebt.
``Es gibt Hilfe und man darf sie sich holen!``
Wie ist die Pilotenposition auf dem Tandem für dich?
Ich muss sehr achtsam sein, nicht nur auf mich selbst aufpassen, sondern auch auf die hintere Person. Auf dem Tandem müssen wir generell gut kommunizieren, was passt für die eine und was passt für die andere Person, beispielsweise hinsichtlich der Geschwindigkeit. Ich denke, Kommunikation ist ein ganz wichtiger Teil dabei, aber wenn es dann läuft, dann spielt man sich mit der Zeit gut aufeinander ein.
Wie würdest du denn deine Depressionserfahrung bildlich beschreiben, wenn du es jemandem erklären müsstest?
Für mich fühlt es sich so an, als würden die Dementoren von Harry Potter kommen. Dieses graue, große und mich niederdrückende Wesen. So hat es sich zumindest für mich angefühlt. Als würde irgendwas schwer an meinen Gliedmaßen ziehen, wodurch ich mich nicht mehr bewegen konnte.
Wie lange ging deine Depression, kannst du das zeitlich eingrenzen?
Eingrenzen kann ich es gar nicht, denn wann es genau angefangen hat, kann ich nicht gut sagen. Es war mit Sicherheit ein Prozess, bei dem ich immer wieder über meine Grenzen gegangen bin und sie auch vor anderen nicht geschützt habe. Irgendwann stellte sich dann ein Punkt ein, wo ich nur noch schlecht schlafen oder mich nicht mehr richtig konzentrieren konnte, doch dabei wusste ich noch nicht, dass es sich schon um eine Depression handelt. Im Nachhinein betrachtet frage ich mich, ob ich mir eher Hilfe geholt hätte, wenn ich diese Anzeichen schon früher als Symptome einer Depression gedeutet hätte. Das weiß ich aber aus dem jetzigen Erleben nicht.
An einem Punkt überwältigte mich das Gefühl: “Ich kann nicht mehr”. Und dann bin ich auch in die Klinik gegangen, das hat mir sehr geholfen. Davor war ich jedoch auch schon in Therapie, wo ich sage, es war sicherlich schon gut, dass ich die Therapie bereits angefangen hatte. Jedoch war es eine andere Form, die zwar hilfreich war, aber für mich vielleicht noch nicht ganz gepasst hat. Während meines Klinikaufenthaltes konnte ich mich das erste Mal seit sehr langer Zeit nur auf mich konzentrieren, was während der ambulanten Therapie mit normalem Alltag nur wenig möglich ist. Besonders haben mir dabei die Therapieformen in der Klinik geholfen, die meine Wahrnehmung geschult und wieder das Vertrauen in mich selbst gestärkt haben.
Das war auch eine wichtige Erkenntnis für mich: Für jede Person, die damit zu tun hat, muss nicht das eine bestimmte Hilfsangebot das Richtige sein, sondern jeder Mensch ist unterschiedlich und es gibt verschiedene Möglichkeiten der Unterstützung. Das ist für mich immer ganz wichtig, wenn ich mit jemandem rede, zu sagen: “Hör zu, wenn du bei dem einen Angebot das Gefühl hast, das ist jetzt nicht das Richtige, dann probiere etwas anderes aus, um für dich wieder gut sorgen zu können.”
Eine Etappe hält sehr viele verschiedene Erlebnisse bereit. Zwischen Interviews mit Journalist*innen, Essenspausen, Schlafplatzsuche und täglich ca. 50-60 km Strecke tut es gut, zwischendurch zur Ruhe zu kommen und durchzuatmen.
Und wie konntest du diese Hilfe für dich annehmen? War da nochmal ein ausschlaggebender Punkt für dich, wo du beschlossen hast, ich handle jetzt für mich, ich tue etwas?
Also, mit der Klinik auf alle Fälle. Ich kam nach Hause und ich konnte mich nicht mehr bewegen. Es fühlte sich an wie Blei an meinen Gliedmaßen, alles war total schwer. Als ich früh zur Arbeit ging, war noch alles ganz normal. Nachmittags kam ich dann nach Hause und es ging nichts mehr. Dann bin ich zur Hausärztin und sie sagte: “In die Klinik, bitte!”
Dort angekommen, musste ich dann erstmal wieder lernen, auf mich zu achten – was tut mir gut und zu erkennen, was sind meine eigenen Muster, z.B. wo vermeide ich Sachen, weil ich sie mir nicht zutraue oder eine Konfrontation mit anderen? Auch zu sagen, das möchte ich jetzt so und das möchte ich gar nicht für mich. Also, lernen “Nein” zu sagen! Das als wichtig zu erkennen und auszudrücken, das war für mich ein entscheidender Schritt.
Wie lange warst du in der Klinik?
Ich war zweimal in der Klinik. 12 Wochen stationär und 14 Wochen in der Tagesklinik. Danach folgte eine Gruppentherapie, die 1x monatlich stattfand und jetzt ausläuft. In der Klinik habe ich das “Handwerkszeug” gelernt, um wieder selbst aktiv zu werden und in der Gruppentherapie konnte ich Sachen besprechen, die mich gerade beschäftigen. Beides hat mir auf verschiedene Weise gut getan. Wieder in Kommunikation mit anderen Leuten zu kommen. Und zu lernen, wie ich manche Sachen anders verstehen, angehen und für mich lösen kann und sich dann dazu mit anderen Menschen darüber austauschen zu können. Und dabei konnte ich auch kennenlernen, wie andere mit ähnlichen Schwierigkeiten umgehen und sehen, “Ah, das ist auch ein Weg”, vielleicht probiere ich den auch mal für mich aus.
“Das war auch eine wichtige Erkenntnis für mich: Für jede Person, die damit zu tun hat, muss nicht der eine bestimmte Hilfspunkt der Richtige sein, sondern jeder Mensch ist unterschiedlich und es gibt verschiedene Möglichkeiten der Unterstützung.”
Nochmal zur MUT-TOUR zurück: Was begeistert dich denn an dem Etappenalltag?
Es sind viele verschiedene Komponenten dabei, die mich begeistern. Ich finde es erstens sehr schön, zusammen mit dem Tandem durch die Natur zu fahren und dann auch, dass im Team miteinander wertschätzend umgegangen wird. Und auch wie die Gruppe zusammenwächst, dass man sich untereinander austauscht und über seine Erfahrungen ins Gespräch kommt. Das sind schöne Gespräche, die wir auch unterwegs mit Leuten haben, die dann sagen: “Oh ja, ich kenne da auch jemanden, der*die könnte vielleicht Hilfe gebrauchen” oder “Ich bin selbst betroffen”. Und dann geht es oft darum, was geholfen hat oder wie mit der psychischen Krise umgegangen wird.
Welche Wirkung hat das Radfahren auf dich?
Erstens macht es mir Spaß und an sich tut mir die Bewegung gut. Ich merke dann, dass die Sachen, die ich alleine nicht getan hätte, in der Gemeinschaft einfach leichter sind. Am Anfang noch etwas wackelig und dann wird es immer besser, wodurch ich mich dann auch stolz fühle. Insbesondere dann mit Blick auf die geschaffte Strecke am Ende einer Etappe, wo ich dann schon erstaunt bin, wie viele Kilometer wir gemeinsam als Team zurückgelegt haben. Und es ist einfach schön zu erleben, wie wir über die Tage zu einem gut zusammenarbeitenden Team wachsen. Und das, obwohl wir uns vorher nicht alle kannten, das ist schon besonders.
Gab es letztes Jahr eine besondere Erfahrung während der Etappe, bei der du mitgefahren bist?
Letztes Jahr bin ich die Etappe von Neustrelitz nach Jena gefahren und die Auftaktveranstaltung fand in einer Wohngruppe für Menschen mit Behinderungen – freies Atelier/Tageswerk Neustrelitz – statt, wo es abends noch eine Gesprächsrunde gab. Und da hat eine Mitarbeiterin dieser Einrichtung erzählt, dass sie selber betroffen ist und wenn es ihr mal nicht so gut geht, steht ihr Chef ihr sehr unterstützend zur Seite und es ist okay, offen darüber zu reden, wie es ihr geht. Genau das, was eben nicht alle Menschen im Arbeitsalltag erfahren! Und dafür sind wir ja auch unterwegs, um zu sagen: “Wir sind ein Teil der Gesellschaft, der genauso agieren kann, wie jeder andere Mensch auch – psychische Erkrankung hin oder her.” Das fand ich sehr schön zu sehen, wie wertschätzend der Umgang miteinander war und mit der Erkrankung integriert zu sein, das hat ein leichtes Gefühl hinterlassen.
Begegnungen am Wegesrand und auf Aktionstagen können sehr bereichernd sein für beide Seiten. Dadurch, dass die MUT-TOUR das Thema Depression und psychische Erkrankungen in den Fokus rückt, fällt es vielen Menschen leicht, mit unseren Teilnehmenden über ihre Erfahrungen zu sprechen – ein Austausch entsteht.
Ist dir noch eine andere besondere Begegnung in Erinnerung geblieben, die dich bewegt hat?
In Potsdam kam ich mit einer älteren Dame ins Gespräch. Sie erzählte, dass ihre Freundin betroffen ist und ihr Partner nicht richtig weiß, wie er sich verhalten soll, insbesondere weil seine Frau noch keine Hilfe annimmt. Der Wille ist zwar schon da, aber die letzte Überwindung fehlt noch. Die Offenheit dieser Person war sehr berührend, da sie sich mit ihren Problemen einer völlig fremden Person anvertraut hat und es hat mir gezeigt, dass, wenn wir uns öffnen und über unsere Erkrankung reden, auch andere sich öffnen und sich damit die Möglichkeit ergibt, Hilfe anzunehmen.
Also, ich denke, wenn psychische Erkrankungen gesellschaftlich mehr besprochen werden, und solche Anhaltspunkte wie – ich kann nicht mehr gut schlafen oder mich nicht gut konzentrieren – auffallen, dass man dann auch eher entscheiden kann, sich Unterstützung zu suchen. Und dabei zeitiger in Hilfsangebote zu kommen, damit man erst gar nicht in eine schwere Depression rutscht.
Gibt es sonst noch etwas, was dir wichtig ist zu erwähnen?
Wenn du den Gedanken hast, “Ich könnte Hilfe gebrauchen”, dann suche dir diese Hilfe. Wenn du das Gefühl hast, “Ich komme nicht mehr alleine weiter”, ist es legitim, sich Unterstützung zu holen. Und die Hilfe kann für jede Person unterschiedlich aussehen. Es gibt Hilfe und man darf sie sich holen!
Danke Dörte für das offene Gespräch 🙂