In Kontakt bleiben lohnt sich. Perspektive einer Angehörigen von Menschen mit psychischen Erkrankungen.
Wenn eine nahestehende Person, sei es innerhalb der Familie, der Partnerschaft, einer Freundschaft oder im beruflichen Umfeld, in der Buntheit der Welt und Einzigartigkeit des eigenen Selbst jeglichen Reiz verschwinden sieht, so wird unwillkürlich das eigene Miterleben berührt. Zu erleben, wie gewohnte und geschätzte Verhaltensmuster oder Personen auszeichnende Merkmale, wie Tonlage der Stimme oder das Gewicht, Stück für Stück die nahestehende Person verändern, kann angehörige Menschen in einen Zustand der Ratlosigkeit, des Missverstehens und versuchten Verdrängens versetzen. Die Entwicklung in bisher nicht gekannte Richtungen wird schnell von einem selbst, als außenstehende Person, als Phase, die von alleine vorüber gehen mag, abgetan. Doch mit der Zeit zeigt sich in mittel- bis schweren Verläufen, dass die erkrankte sowie auch die angehörige Person nur wenig aus eigenen Kräften tun können. Diese Art der Hilflosigkeit auszuhalten, ist oft nur schwer zu ertragen und stellt die Beziehung auf eine Belastungsprobe.
Nicht selbst betroffen zu sein und dennoch eine Art des Verstummens der Lebensgeister beim Gegenüber zu spüren, lässt Unsicherheiten entstehen. Diese erschweren die Kommunikation und das “in Kontakt bleiben” enorm. Was darf noch gesagt/gefragt werden ohne mein Gegenüber vor den Kopf zu stoßen oder Druck aufzubauen? Als angehörige Person gesagt zu bekommen, dass der blau strahlende Sommerhimmel an einem Tag im August die betroffene Person in keiner Weise dazu anregt, das Haus, geschweige denn das eigene Bett zu verlassen, obwohl das sonst die gewohnt erste Reaktion dieser war, löst pures Unverständnis aus. Mit einer veränderten Realität konfrontiert zu werden, die Szenen der Erinnerung, in denen beispielsweise ein breites Lachen oder die Lust auf Abende beim Italiener, in weiter Ferne verblassen lassen, löst zudem ein Gefühl des Stillstands und der Sehnsucht nach alten Zeiten aus. Es ist eine Suche nach einem Stück „Normalität“, die manchmal auch zu Ausbrüchen der Wut/Verzweiflung führen kann, die sich nicht auf den Betroffenen oder Angehörigen selbst, sondern auf den reißenden Strudel der Krise richtet. Gefühlt gleicht das Ganze einem großen Elefanten, der immer wieder mit im Zimmer steht und so viel Platz einnimmt, dass beiden Seiten nur wenig Raum für die eigenen Bedürfnisse und eine Annäherung bleibt.
Aussagen wie „kann er/sie sich denn nicht mal zusammenreißen“ oder „mit ein bisschen mehr Sport kommt der Kreislauf schon wieder in Schwung“ sind Reaktionen, welche einigen Angehörigen nicht selten über die Lippen springen; schließlich haben sie die Erfahrung gemacht, dass ihnen diese Tipps bei schlechter Stimmung geholfen haben. Aufgrund fehlender Begegnungen mit psychischen Erkrankungen setzen sie ihre eigenen Handlungsmöglichkeiten mit denen des Betroffenen gleich und können die komplexe Entstehung depressiver Episoden oder gar chronischer Krankheitsverläufe nicht in die Beurteilung der Situation mit einbeziehen. Leider können derartige Tipps die Schuld- und Schamgefühle bei Betroffenen begünstigen.
Es ist eine Herausforderung, bspw. als Partner zu erleben, wie die erkrankte Person selbst bei lebensverändernden Ereignissen des eigenen Kindes nur mit größter Anstrengung Gefühle transportieren kann. Dies widerspricht oft der eigenen Beziehungslogik. Neben diesem Beispiel gibt es zahlreiche weitere, die zeigen, wie schwer es ist, der betroffenen Person keine Schuldzuweisungen zu zusprechen und sich selbst dabei nicht am Belastungserleben zu verlieren.
Hier kann es helfen, die eigene Beobachtung in den Kontext der Erkrankung zu setzen und sich auch zu erinnern, dass in stabilen Phasen genau das Gegenteil möglich ist und diese Phasen auch wieder eintreten können.
Es ist eine Mischung aus verschiedenen Herangehensweisen, die sich unterstützend auf die Beziehung auswirken können: Geduldig zu sein, niemanden zu ehemals gemochten Hobbys zu drängen, Gespräche am Laufen zu halten, auch wenn sie nicht wie gewohnt verlaufen – sich dabei auch im Zuhören und wertfreien Urteilen üben – oder einfach nur in Stille beieinander zu sitzen; im Grunde für den anderen da zu sein. Dennoch erfordert es eine Menge an Energie und Ausdauer krisenhafte Zeiten mitzuerleben und dabei die Hoffnung auf Phasen der Besserung nicht aus den Augen zu verlieren. Diesem „Ausdauerlauf“ stand halten zu können, ist mit ausreichend Selbstfürsorge verbunden, die auch beinhalten darf, selbst Unterstützungsangebote in Anspruch zu nehmen. Es hilft, eigene Belastungsgrenzen für sich selbst, aber auch für andere, aufzuzeigen und achtsam mit vorhandenen Energieressourcen umzugehen. Schließlich erwartet niemand, auch nicht der/die Betroffene selbst, die vollkommene Lebenshingabe während Krisenzeiten. Das Bild der Sauerstoffmaske im Flugzeug ist hier besonders passend, denn auch dort werden wir gebeten, erst die Sauerstoffzufuhr bei uns selbst sicherzustellen, um damit anderen helfen zu können.
Mit Jahren der Erfahrung und durch Austausch mit Menschen, die depressive Phasen mit- oder selbst erlebt haben, zeigt sich, dass es leider keinerlei Patentrezept für den Umgang mit Krisensituationen und die Bewahrung der eigenen Kräfte gibt. Jede Beziehung gestaltet sich individuell, daher kommt es darauf an, immer wieder von neuem im Austausch darüber zu bleiben, was individuell hilft oder doch eher belastet. Besonders der Austausch mit Menschen, die ähnliche Erfahrungen durchlebt haben, kann sehr entlastend wirken. Indem es ein Gefühl schafft, nicht als einzige Person mit diesen Herausforderungen konfrontiert zu werden und Perspektiven im Umgang mit diesen aufzeigen kann. Es zeigt sich, wie wertvoll ein Dranbleiben und Mitlaufen unter Einhaltung der eigenen „Wasserpausen“ sein kann; schließlich geht es zusammen immer einfacher als allein. Auch wenn ein “Zusammen” bedeutet, der betroffenen Person nur über eine monatliche SMS das Gefühl zu geben für sie da zu sein und somit Verlässlichkeit zu schaffen. Spätestens mit dem ersten Wahrnehmen des lang ausgebliebenen und gewohnten Humors, erkennt man aufs Neue, dass sich das „Dranbleiben“ und “Zusammenhalten” gelohnt hat.
Dieser Text stammt von Franziska, Mitarbeiterin der MUT-TOUR Projektleitung. Sie ist selbst Angehörige in der Perspektive des Kindes und Freundin. Aufgrund ihrer langjährigen Erfahrungen engagiert sie sich seit ein paar Jahren als Peer-Beraterin für den Berliner Verein Angehörige psychisch Kranker.