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Gans im Flug als Sinnbild für Freiheit

Wie Corona den Alltag eines psychiatrischen Pflegeheims aufmischt und dennoch Menschen näher zusammenbringt

Arbeit & Corona: Beate erzählt wie sie den ersten Lockdown im Frühjahr in einem psychiatrischen Pflegeheim erlebt hat

Ich arbeite in einem psychiatrischen Pflegeheim. In meiner Wohngruppe wohnen zehn bis zwölf Männer und Frauen zwischen Mitte vierzig und achtzig, mit unterschiedlichen Diagnosen: Schädel-Hirn-Traumata nach Unfällen, Hirnschädigungen nach unglücklich verlaufenen Operationen, Psychosen, chronisch psychotische Lebenswelten, unverheilte Traumata, Folgen von Alkoholmissbrauch, und Depressionen, und bei manchen stehen mehrere Diagnosen in Kombination. Manche kommen mit dem Heimrhythmus – geprägt von Mahlzeiten, pflegerischen Abläufen und viel selbst zu gestaltender Freizeit – ganz gut klar, den meisten aber fällt es schwer, den Tag zu strukturieren und zu füllen. Das ist meine Aufgabe.

Vor Corona gab es feste Gruppen und Zeiten, die teils über Jahre verinnerlicht waren. Keiner musste mehr an die morgendliche Spazier- oder die Zeitungsrunde erinnert werden, zwei Mal die Woche wurde zusammen gekocht, nachmittags war Kegeln oder ein Ausflug in die Stadt geplant, und wenn gerade nichts geboten war, dann hatte der Freizeittreff auf dem Gelände geöffnet, in dem es Kaffee für 40 Cent und leckere Cocktails aus Fruchtsäften gab. Es hatten sich Freundschaften und Beziehungen zwischen den verschiedenen Wohngruppen gebildet. Die von der Wohngruppe 4 kamen regelmäßig mit der 2 zusammen, von der 1 kam man zu Besuch hoch auf die 4 oder von der 3 rief man auf der 4 an und verabredete sich; so ging es hin und her, und in dem Mikrokosmos konnte man sich durchaus heimisch fühlen. 

Mit Corona war allem der Stecker gezogen. Keiner sollte mehr das Gelände verlassen, alle Gruppenangebote waren gestrichen und eine Beschäftigung ging nur noch 1:1. Man aß nicht mehr zusammen im Speisesaal, sondern jeder nahm sein Tablett mit in sein Zimmer. Die Bewohner waren gehalten, sich nicht mehr gegenseitig zu besuchen. Auch die verschiedenen Wohngruppen sollten sich nicht mehr mischen. Der Freizeittreff und die Kegelbahn waren geschlossen und Besuche von außen untersagt. Internetzugang oder eine Möglichkeit für Face-to-face-Telefonate mit Angehörigen bestand nicht. Jeder blieb ganz für sich.

Das war für viele ein Schock. Einige Bewohner standen überhaupt nicht mehr auf und kamen im Bademantel in den Flur, um ihr Essenstablett entgegenzunehmen, nur um sich nach dem Essen sofort wieder ins Bett zu legen. In manchen Zimmern blieb der Vorhang tagelang zu. Viele saßen stundenlang im Gang und warteten, dass etwas geschieht. Die Raucher rauchten viel, und weil die Bewohner nicht mehr selbst ins nahe Einkaufszentrum sollten, ging ich ein Mal die Woche mit einer langen Liste einkaufen und füllte den Wagen mit bestellten Waren wie Tabak, Cola, Keksen, Schokolade und kiloweise Gummibärenzeug. Wenigstens das war nicht verboten, und es wurde rege beansprucht. Aber wenn der Rest “scheiße” ist, macht halt auch Schokolade nicht glücklich. 

Gans im Flug als Sinnbild für Freiheit
Blumenwiese

Ich ging mal mit diesem und mal mit jener Person eine Runde im Park spazieren, spielte hier Backgammon und da Schach, malte und besorgte Wolle zum Stricken, und ich bestückte den Getränkewagen mit CDs, Spielen, Zeitungen, Kaffee und Saftschorle und gab den Zimmerservice. Aber ich arbeite nur 40%, und außer mir gibt es niemanden in dieser Funktion für diese Wohngruppe. Das ganze System war darauf ausgelegt gewesen, dass sich die Wohngruppen mischen und Angebote anderer Gruppen sowie auf dem Gelände auch eigenständig wahrgenommen werden können. Das gab es nun alles nicht mehr. Für eine Weile kam stundenweise eine junge Psychologin zu unserer Wohngruppe, die von einem coronabedingt geschlossenen, zur Einrichtung gehörenden, externen Haus quasi ´übrig geblieben´ war. Aber auch zusammen konnten wir den Verlust nicht auffangen. 

Einem Bewohner zog es mit jedem Tag mehr den Boden unter den Füßen weg. Er ist seit vielen Jahren im Haus; er durchlebt manisch depressive Phasen und hatte auch schon diverse Suizidversuche unternommen. In den letzten Jahren aber war er eigentlich sehr stabil gewesen. Er traf regelmäßig seine Schwestern und hatte ein fast brüderliches Verhältnis mit seinem Zimmergenossen. Mit diesem besuchte er viel den Freizeittreff und nahm zuverlässig an den Angeboten teil, die er durchaus mitunter zu genießen schien. Und wenngleich sein Dasein auch frei von Höhenflügen und Leidenschaften war, hatte er ganz den Eindruck gemacht, als könne er seinem Leben auf diesem Weg sehr wohl etwas abgewinnen. Seine Depression schien gebändigt; er wirkte ausgeglichen und zufrieden.

Mit dem Lockdown und der Isolation brachen für ihn Halt und Struktur weg, und er wirkte wie ein verschrecktes Reh. Seine Medikation wurde umgestellt, und erst schien das zu helfen. Einmal kam er glückstrahlend auf mich zu und sagte „Frau K., dieses neue Medikament, das ist ganz wunderbar. Mit dem geht es mir so gut!“ Er war ganz euphorisch. Plötzlich unterhielt er sich rege, saß mal bei dem und stand bei jener, er war gesellig und agil und verabredete sich zum Eis-essen gehen, was dann freilich nicht stattfand, und ich dachte staunend „wow – so ist er, wenn er glücklich ist“.

„Das kann auch kippen!“, prophezeiten die Erfahreneren im Personal, und so war´s auch. Von jetzt auf gleich, nach kurzer Zeit, war er bloße Verzweiflung, weinte und wollte nicht mehr. Er kam auf eine Akutstation und ist bis heute nicht zurück. Auf der Wohngruppe fragen sie immerzu nach ihm. Er fehlt. Bis zu diesem neuerlichen ´Lockdown light´ jüngst hatte ich ihn ein paar Mal abgeholt und mit in den Park genommen oder ich habe ihn auf der Station besucht, und erst meinte ich einen Aufwärtstrend an ihm wahrzunehmen, er hatte mal wieder gelacht, sich für Lebensfreude zugänglich gezeigt und von einem Zurückkommen gesprochen. Dann musste er auf seiner Akutstation in Zimmerquarantäne, weil sein dortiger Zimmerkollege Kontaktperson gewesen war. Spätestens seither scheint er einem Sog ausgesetzt zu sein, der ihn immer weiter in die Tiefe zieht. Es wirkt als hätte er dem nichts entgegenzusetzen. Jeder Lebenswille ist aus ihm gewichen, er kann seine Körperfunktionen nicht mehr kontrollieren und sämtliche Sinneswahrnehmungen quälen ihn. Was er sieht, ist zu grell, was er hört zu laut, was er fühlt zu heiß oder zu kalt und was er schmeckt ist eklig und schlecht. Für mich ist auch dies ein Schock. Ich habe noch nie einen Menschen in so elender Verfassung erlebt. Es tut mir so leid, dass ich ihn nicht habe halten können. Ich glaube fest daran, dass alle Beteiligten ihr Bestes tun, damit es bald wieder aufwärts geht bei ihm – ich hoffe, es genügt, und er kommt zurück. 

Mit den anderen Bewohnern habe ich nach und nach eine neue Struktur gefunden, die weniger abwechslungsreich ist als die frühere, die aber immerhin soweit funktioniert, dass alle einen Betriebszustand zu finden scheinen, in dem sie ihre Krankheit und Corona aushalten können. „Wann ist es vorbei?“ bleibt freilich tägliche Frage. Durch die Isolation, die nun häufigeren Zimmerbesuche 1:1 und mein Einkaufen, mit dem ich großzügig die jeweiligen Vorlieben bedienen kann, bekam ich besseren Zugang auch zu denen, mit denen ich zuvor wenig Kontakt gehabt hatte. Aus dem Zimmerservice war eine Zeitungsrunde im Flur geworden: irgendwann anfangs des ersten Lockdowns hatte ich festgestellt, dass einige Bewohner keine Ahnung mehr hatten, welcher Tag, ja welchen Monat wir hatten. Daraufhin bat ich nach dem Mittagessen alle mit Stühlen in ihre offenen Türen zu kommen, so dass der Abstand gewahrt blieb und verteilte dann Kaffee und Kekse von ´meinem´ Wagen, stellte mich selbst in der Mitte auf und las aus der Zeitung vor. Das ist ein beliebtes Ritual geworden, brach wenigstens kurz Öde und Isolation und schuf ein wenig Gemeinsamkeit und Überblick.

Der Umstand, dass alles Tun bis auf Weiteres auf die eigene Wohngruppe beschränkt sein muss, hat auch Ruhe mit sich gebracht und die Gruppe zusammenwachsen lassen. Schließlich ist auch in unserem Heim der erste Lockdown allmählich gelockert worden. Es wurden wieder kleine Gruppen mit bis zu vier Teilnehmern erlaubt, was die beschäftigte Zeit für jeden Bewohner deutlich erhöht. Die Wohngruppen sollen sich nach wie vor nicht mischen, es gibt keine übergreifenden Angebote, und auch Freizeittreff und Kegelbahn bleiben geschlossen, aber es waren wieder gegenseitige Zimmerbesuche der Bewohner untereinander erlaubt, und im Sommer waren sogar ein Grillfest und ein paar Ausflüge drin. Es gibt wieder eine gemeinsame Spazierrunde morgens im Park. Einige essen zwar nach wie vor auf ihren Zimmern, aber auch die Tische im Speiseraum sind wieder mit je maximal zwei Leuten besetzt. Die Zeitungsrunde ist verlegt und findet jetzt nach dem Mittagessen ebenfalls im Speiseraum statt, wo es eine gemütliche Sofaecke gibt. Kochen dürfen wir noch immer nicht, aber wir backen Kuchen, und jetzt haben wir begonnen Lampions zu basteln, um ein wenig Licht in die dunkle Jahreszeit zu bringen. 

Und auch wenn nichts geboten ist, was nach wie vor lang und oft der Fall ist, dann haben sich neue Muster gebildet. Manche Fernseher laufen lang, CD- Player laut; wenn das Wetter es erlaubt, setzen einige sich raus; es wird viel Kaffee getrunken und geschleckt, es wird viel geraucht und viel geschlafen. Dennoch denke ich, keiner fühlt sich ganz alleine, und alle vertrauen darauf, dass es auch mal wieder anders wird. Ich hoffe, dass der Speiseraum geöffnet bleibt und Kleingruppen weiter erlaubt  – ich hoffe, dass die Wohngruppe eine wirkliche Gruppe bleiben darf. 

Ich verstehe die Vorsicht, aber Leben geht nicht ohne ein gewisses Risiko, ich will es nicht praktisch in einen Winterschlaf zwingen. Es übersteht diesen auch nicht jeder unbeschadet. Wieder heißt es jetzt, die Bewohner sollen einander nicht besuchen, und Paare aus verschiedenen Wohngruppen sich nicht küssen. Kein Tröpfchenaustausch! Vielleicht liegt es an meiner insgeheimen Überzeugung, dass man das Küssen niemals verbieten sollte – es wurde mir schon zugetragen, dass es geschehe, gesehen habe ich es selbst nie, und das ist mir nicht unrecht. Und im Übrigen tun die Bewohner das Richtige – sie fügen sich und geben sich Mühe, die meisten haben in irgendeiner Hosentasche einen Mund-Nasen-Schutz und manchmal wird der auch richtig aufgesetzt. Jeder weiß, was mit „Abstand!“ gemeint ist, und nur wenn das Bedürfnis nach Brechen der Kontaktregeln gar zu stark wird, wird eine Prise Nähe erschlichen. Wer weiß, vielleicht sogar mit Körperwärme und Haut an Haut. Und das ist gut so, das braucht es zum Überleben, das ist wie Medizin. Irgendwie schaffen wir das.

Beate hat zwar an keiner MUT-TOUR Etappe bisher teilgenommen, dennoch hat sie gerne ihre Arbeitsperspektive während des ersten Lockdowns in diesem Frühjahr mit uns geteilt. In dem psychiatrischen Pflegeheim in dem sie arbeitet, motiviert sie zu Bewegung, sortiert Schränke oder geht mit den Bewohnern einkaufen. Sie beschreitet gemeinsam Wege ins Leben ´draussen´. Wobei es ihr wichtig ist, dass die Bewohner dabei sind und tatsächlich teilhaben. Sie hört zu oder beantwortet Fragen und versucht das Wohngruppenleben so zu gestalten, dass ihre Mitglieder möglichst gerne da sind und ihr Leben als ´normal´ ansehen. Denn das sagen sie fast alle, immer wieder, „ich will ein normales Leben“. Beate betreibt auch einen eigenen Blog, mehr dazu findest Du hier.

Neben unseren aktiven MUT-TOUR Teilnehmenden laden wir immer wieder auch andere Menschen ein, ihre Gedanken zu einem selbstgewählten Thema aus dem Bereich psychische Krisen und Selbsthilfe zu teilen. Bei Interesse, kontaktiere uns gerne hier.

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