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„Anerkennung der eigenen Geschichte“ – Sichere Räume für Menschen mit Diskriminierungserfahrungen

Es gibt verschiedene Faktoren, die es Menschen erschweren, eine passende ärztliche oder therapeutische Behandlung zu erfahren. Von diesen wird hier ein ausgewählter Teil vorgestellt. Das Interview mit Sara führte Anna von der MUT-TOUR.

Wer sich in ärztliche oder therapeutische Behandlung begibt, sucht Unterstützung und Hilfe. Auch im Gesundheitswesen erleben Menschen dabei jedoch immer wieder Diskriminierung. Sie können sich nicht darauf verlassen, respektvoll und sensibel behandelt zu werden, zum Beispiel aufgrund der sexuellen Orientierung, geschlechtlichen Identität oder als Person of Color. Sara hat darum vor zwei Jahren Queermed Deutschland gegründet, ein Verzeichnis mit queerfreundlichen und sensibilisierten Ärzt*innen und Therapeut*innen.

Auf Queermed können Menschen auf Basis ihrer eigenen Erfahrungen Empfehlungen abgeben. Sara sprach mit uns in einem Interview über den Gründungsprozess und darüber, warum es Plattformen wie diese braucht – im Gesundheitswesen allgemein und speziell auch in der Psychotherapie.

Nachdem Sara erfolglos nach einem deutschen Pendant zu Queermed Österreich gesucht hatte, entschied Sara sich, dieses selbst ins Leben zu rufen: Ein Verzeichnis von queerfreundlichen und sensibilisierten Ärzt*innen und Therapeut*innen, das deutschlandweit, fachübergreifend und öffentlich zugänglich ist. In Absprache mit Queermed Österreich und unterstützt von vielen Seiten entstand Queermed Deutschland. Seit der Gründung ist viel passiert: Das Verzeichnis umfasst aktuell ca. 800 Empfehlungen in verschiedenen Fachbereichen, die Webseite ist zweisprachig verfügbar und Queermed seit Anfang des Jahres als gemeinnützig anerkannt. 

Sara hat vor zwei Jahren Queermed Deutschland gegründet und war überrascht, wie groß der Ansturm und der Bedarf war.

Warum braucht es Queermed? 

Im eigenen Umfeld hörte Sara immer wieder, dass Menschen Diskriminierungserfahrungen machten, durch unsensible Behandelnde oder das Praxispersonal. Sara sieht dafür mehrere Gründe: 

“Zum einen wird die Medizin immer noch sehr weiß, heteronormativ, männlich und cis-geschlechtlich dominiert, sowohl auf der praktizierenden Seite, also bei denen, die Mediziner*innen werden, und auch, was die Inhalte an den Universitäten angeht. Da existieren schon viele Bewegungen, die sich mit Themen wie Gendermedizin, Rassismus, Ableismus in der Medizin befassen. Denn bisher gibt es eher freiwillige Veranstaltungen und diese Themen sind nicht Teil des verpflichtenden Curriculums. […] In anderer Hinsicht geht es meiner Meinung nach auch um die Kommerzialisierung und Kapitalisierung von Medizin. Ärzt*innen haben immer weniger Zeit für ihre Patient*innen, gerade auch in großen Kliniken. Und dieser Druck geht einher mit unterbewussten Vorurteilen (“unconscious biases”), die Mediziner*innen, die jetzt aktuell praktizieren, über Personengruppen haben können. Sei es durch die Medizin oder durch die eigene Geschichte – es mag bestimmt nicht jedes Mal absichtlich sein. Da ist dann oft kein Platz für empathischen Umgang mit Patient*innen, der aber nachgewiesenerweise in Studien für den Gesundungsprozess von Patient*innen unheimlich viel ausmachen kann.”

Sara spricht außerdem über ein Machtgefälle, das entsteht, wenn sich eine Person in Behandlung ergibt: 

Wie äußert sich die Diskriminierung?

Auf der Seite des VLSP (Verband für lesbische, schwule, bisexuelle, trans*, intersexuelle und queere Menschen in der Psychologie) erklärt Dr. phil. Jochen Kramer, warum es Vorbehalte bei queeren Menschen gibt, sich in therapeutische Behandlung zu begeben, zusätzlich zu potentiell unsensiblen Behandelnden:

“In der Psychologie wurde es lange Zeit als Krankheit angesehen, LSBTIQ* zu sein und alles mögliche versucht, um Menschen das LSBTIQ*-Sein „abzugewöhnen“ (sog. Konversionsversuche).” Homosexualität wurde 1990, Transsexualität erst 2019 von der Liste der psychischen Krankheiten der WHO gestrichen. Seit 2020 gibt es zumindest bei Kindern und Jugendlichen ein Verbot für Konversionsversuche. 
Kramer ergänzt: “Für Geschlechtsangleichungen [sind] psychotherapeutische Gutachten und begleitende Psychotherapien in Deutschland zwingend vorgeschrieben. Dieser Zwang wird von vielen als unangenehm empfunden.”

Auch Personen of Color begegnen Vorurteilen und schlechter Versorgung sowohl in der medizinischen als auch in der therapeutischen Behandlung: So kann z.B. das Schmerzempfinden weniger ernst genommen werden in der medizinischen Behandlung oder Rassismuserfahrungen werden in der Therapie relativiert. Dies führt nicht nur zu einer schlechteren Behandlung, sondern auch dazu, dass Menschen sich seltener oder später Hilfe holen.

Sara berichtet im Interview davon, dass für Empfehlungen von Therapeut*innen auf Queermed meist die Anerkennung der individuellen Geschichte sowie ein respektvoller Umgang ausschlaggebend sind:

Veränderung durch Weiterbildung von Fachkräften

Viele Vorurteile entstehen unbewusst und sind Teil der Sozialisierung – alle Menschen sind geprägt durch die Gesellschaft, in der sie leben. 

Von Diskriminierung betroffene Menschen sind durch die Erfahrungen, die sie machen, gezwungen, sich mit Diskriminierung zu beschäftigen, sie erleben sie. Wer selbst nicht von bestimmten Diskriminierungen betroffen ist, hat das Privileg der Wahl und kann sich bewusst dafür entscheiden, offen zu sein und zu lernen.

Für Therapeut*innen und Ärzt*innen gibt es verschiedene Möglichkeiten, sich fachlich für die Arbeit in einer diversen Gesellschaft und mit Blick auf verschiedene Perspektiven weiterzubilden. Ein erster Schritt ist der Leitfaden für den Umgang mit Patient*innen auf der Webseite von Queermed. Dieser entstand durch das Interesse von Behandelnden, erzählt Sara: 

Auf der Webseite von Queermed Deutschland findet man nicht nur Empfehlungen, sondern auch Informationen für die Weiterbildung durch Buchempfehlungen und einen Leitfaden für Praktizierende.

“Einzelne Ärzt*innen, die bei uns gelistet wurden, fragten nach Möglichkeiten, sich fortzubilden. […] Beispielsweise gibt es für Logopäd*innen extra Ausbildungen für die Zusammenarbeit mit trans Personen. Oder es gibt auch Fortbildungen in dem Bereich rassismuskritischer Umgang mit Patient*innen im Therapiebereich.”

Auch auf der Webseite des VSLP finden sich hilfreiche Informationen, wie eine Liste mit Fachartikeln und auch Empfehlungen zur Psychotherapie und Beratung mit lesbischen, schwulen und bisexuellen Klient*innen. Vor kurzem hat sich außerdem die DE-CONSTRUCT Akademie gegründet, die erste digitale Weiterbildungsplattform zur Rassismussensibilisierung für Fachkräfte.

„Queers, wie können wir gute Verbündete für euch sein?“ fragt Anna Caterina Helm in der Süddeutschen Zeitung – JETZT.  Illustration von Daniela Rudolf-Lübke

Auch im privaten Kontext braucht es Verbündete

Wichtig für eine wertschätzende Begegnung ist Offenheit und Anerkennung der individuellen Facetten einer Person – und dass Menschen geglaubt wird, wenn sie von ihren Erfahrungen erzählen. Dafür braucht es erstmal kein Fachwissen. Das gilt sowohl für Behandelnde im Gesundheitswesen, aber natürlich auch für jede*n Einzelne*n. 

Darüber hinaus die eigenen (teils unbewussten) Überzeugungen, Denkmuster und Vorurteile zu reflektieren, braucht Zeit und Wissen. Dabei sollten die Personen, die von ihren Diskriminierungserfahrungen berichten, jedoch keine Bildungsarbeit in privaten Gesprächen übernehmen. Wer sich als nicht betroffene Person Wissen aneignen und Verbündete*r werden möchte, hat heute eine große Auswahl an Büchern, Artikeln oder auch Podcasts. Wer Interesse hat, kann sich z.B. von dieser Bücherliste von Queermed inspirieren lassen!

Weitere Artikel und Tipps finden sich weiter unten, ebenso wie eine Liste an Informationen und Verzeichnissen für Menschen, die für sich nach sensibilisierten Ärzt*innen und Therapeut*innen suchen.

Wie kann ich Queermed unterstützen?

Wer Queermed unterstützen möchte, kann dies auf vielfältige Weise tun: 

  • Sprecht online und offline über Queermed, verlinkt die Webseite, teilt Inhalte auf Instagram, Twitter oder LinkedIn
  • Nutzt die Webseite und empfehlt Ärzt*innen und Therapeut*innen
  • Lasst euch Infomaterial per Post schicken und verteilt Flyer und Sticker
  • Wer kann: Spendet einen Betrag eurer Wahl oder schließt eine Steady-Mitgliedschaft für regelmäßige finanzielle Unterstützung ab. Weitere Infos dazu gibt es hier.

Verzeichnisse

Queermed Deutschland – Verzeichnis für queer­freundliche und sensibilisierte Ärzt*innen in Deutschland

Queermed Österreich – Verzeichnis von queer- und trans-friendly Ärzt*innen und und Therapeut*innen in Österreich

gynformation – Queer-feministische Adressliste für Gynäkolog*innen, Hebammen, Endokrinolog*innen, Urolog*innen, Dermatolog*innen und gynäkologisch tätige Allgemeinärzt*innen

Regenbogenportal – Informationspool der Bundesregierung zu gleichgeschlechtlichen Lebensweisen und geschlechtlicher Vielfalt

Interaktive Karte vom Queer-Lexikon – Übersichtskarte über queere Jugendgruppen in Deutschland, Österreich und der Schweiz

Weblinks für Informationen und Weiterbildung

Leitfaden für den Umgang mit Patient*innen – Queermed Deutschland

Bücherliste – Queermed Deutschland

VSLP – Verband für lesbische, schwule, bisexuelle, trans*, intersexuelle und queere Menschen in der Psychologie

Feministische Mediziner*innen – Zusammenschluss von intersektional-feministischen Humanmediziner*innen

Afrozensus – Ergebnisse der Onlinebefragung zu Lebensrealitäten, Diskriminierungserfahrungen und Perspektiven Schwarzer, afrikanischer, afrodiasporischer Menschen in Deutschland

DE-CONSTRUCTdigitale Weiterbildungsplattform zur Rassismussensibilisierung für Fachkräfte

TransVer – Kostenfreie Angebote für psychosoziale Fachkräfte mit transkulturell reflektierendem Ansatz

BBQ – der Black Brown Queere Podcast (nur auf Spotify)

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