Blog

Impulsvortrag: “Selbsthilfe und Öffentlichkeitsarbeit” Selbsthilfetag der Aktion psychisch Kranke e.V. am 5.11.18

MUT-TOUR – Gegen das Stigma der Depression

Moderation, Impulse: Sebastian Burger, Franziska Radczun, Annika Schulz
Beitrag: Sebastian Burger

 

Bei der MUT-TOUR machen depressionserfahrene und -unerfahrene Menschen seit 2012 gemeinsam Sport und Öffentlichkeitsarbeit. Sie setzen sich mit ihren persönlichen Gesichtern und Geschichten für mehr Wissen und Mut im Umgang mit psychischen Erkrankungen ein. Jeden Sommer bewegen sich Sechserteams auf Tandems und zu Fuß durch Deutschland und treffen überall dort, wo es Redaktionen gibt, Journalisten. In sechs MUT-TOURen haben bis dato 241 Teilnehmer 30.700 km zurückgelegt und mehr als 2.600 ermutigende Zeitungsartikel sowie hunderte Online-, Radio- und TV-Veröffentlichungen zum Projekt und seinem Anliegen auf den Weg gebracht.

Jährlich finden in zahlreichen Städten Infostand- und Mitfahr-Aktionen statt, an denen lokale Vereine und Institutionen aus den Bereichen Psychosoziales und Fahrrad ihre Angebote präsentieren.

Da wir im Laufe der Jahre viel Know-how in Sachen Öffentlichkeitsarbeit um das Thema Depression herum gesammelt haben, boten wir seit 2015 gelegentlich Workshops für Multiplikatoren an, so auch bei diesem Selbsthilfetag. Die Idee ist, Leute, die selbst in einer Selbsthilfegruppe aktiv sind, im Gesundheitssektor arbeiten oder schlichtweg “nur” als Selbst-Betroffene um ein besseres “Standing” bzw. eine bessere Art und Weise der Kommunikation ringen, zu informieren, wie die MUT-TOUR Öffentlichkeitsarbeit leistet und zu gucken, ob man etwas für den eigenen Kontext übernehmen kann.

Wir finden, dass die eigene Haltung zum Thema sowie die Wortwahl mit darüber entscheidet, ob Botschaften überhaupt und wenn ja, wie beim Gegenüber ankommen. Wie wichtig der Einsatz eindeutiger Begrifflichkeiten ist – haben uns die Ergebnisse einer in 2017 und 2018 durchgeführten, von der BARMER-geförderten Bürgerbefragung mitsamt wissenschaftlicher Auswertung gezeigt. Befragt wurden 917 wahllos (daher nicht-repräsentativ) angesprochene und befragte Menschen in ganz Deutschland. Die fahrenden Etappen-Teams haben 417 und eine studentische Kontrollgruppe 500 Menschen in vier verschiedenen Städten auf der Straße und an öffentlichen Plätzen angesprochen und zu einer anonymen Befragung per Zettel gebeten. Es ging um das Vorwissen und die Akzeptanz der drei Begriffe “Selbsthilfe”, “Betroffenenkompetenz” und “Entstigmatisierung”, mit denen auch wir in den vergangenen Jahren in Interviews und eigenen Medien gerne gearbeitet hatten. Heraus kam, dass sie in der genannten Reihenfolge immer un-vorbekannter wurden und bis zu 25% der Befragten nicht einmal ein Gefühl mit “Enstigma-dingsbums” verbinden konnten, sprich, ob dies eher eine eklige Erkrankung oder was Positives ist. Wer Bürger erreichen will, sollte sich um verständliches Umschreiben bemühen. “Für weniger Angst und Scham im Umgang mit Depression eintreten” statt “für die Entstigmatisierung der Erkrankung Depression sein”. Zwar wissen die allermeisten, dass Depression, Psychosen, Borderline usw. Erkrankungen sind – es wäre aber umso besser, wenn man auch die Symptome  umschreiben würde, damit der Leser oder die Hörerin bessere Chancen hat, zumindest in Ansätzen zu verstehen, worum es beim jeweiligen Begriff geht. In einem unserer Artikel umschrieb eine Teilnehmerin ihre Depressionserfahrung folgendermaßen: “Ich konnte es mir vorher ja selbst nicht vorstellen. Aber aufeinmal hat man das Gefühl, dass die Zahnbürste zehn Kilogramm wiegt. Selbst Zähneputzen fällt dann schwer.” Dieser O-Ton zeigt, wie Fallbeispiele gezielt genutzt werden können, um komplexe Krankheitsbilder sinnvoll reduziert darzustellen.

Ich bin mir sicher, dass es nicht hilft, der Öffentlichkeit oder dem Journalisten unausgewogen nur Negatives zu vermitteln. Selbst bei Erkrankungen, die sich weniger gut behandeln lassen als Depression, hilft ein Funke “Hoffnung” – und sei es, wie man die Erkrankung gut prävenieren kann – dass der Leser das Thema, also die Erkrankung, nicht in die Schublade “Ist mir zu elend, damit will ich nichts zu tun haben” ablegt und anfängt wegzusehen. Wollen wir unser Publikum von vornherein demotivieren? Wir wollen stattdessen lieber vermitteln: “Hey, natürlich ist Depression eine schlimme Erkrankungen und ja – es fehlen Therapeutenzulassungen. UND dennoch: Eine Behandlung lohnt sich, gib nicht auf… usw.”? Noch ein Beispiel aus der Praxis: Bei der MUT-TOUR sind wir froh, dass unser Schwester-Projekt “Freunde fürs Leben” speziell das Thema Suizidalität und deren Prävention angeht. Suizid – ein leider für viele noch weniger nachvollziehbares Thema. Wir raten unseren Teilnehmern stets, das Thema Suizid nicht als Legitimitätskeule gleich zu Beginn eines Interviews zu schwingen – nach dem Motto “5% depressiv Betroffener nehmen sich das Leben, sehen sie: es ist eine richtig ernsthafte Erkrankung!” – solche vermeintlich “massiven Argumentationen” vergraulen vermutlich mehr Leute, als dass sie für das Thema erschließt. Ich würde sogar sagen: Derlei Argumentationen fördern das Stigma der Depression. Der Suizidalitätsbegriff wird in keiner Weise aufgewertet, sondern sein Stigma entlädt sich in unguter Weise, also zusätzlich in Richtung der Depression. Wenn eine Teilnehmerin hingegen sagt “Ich habe seit vielen Jahren immer wieder Suizidgedanken – ich lebe damit. So und so kann ich damit umgehen..” –  dann ist das eine hilfreiche Artikulation: Da ist eine a) selbst betroffene Person b) bei sich geblieben, hat c) maßvoll und ausgewogen informiert und half somit Menschen, die selbst mit Suizidgedanken leben, sich mit ihr zu identifizieren und Hoffnung zu schöpfen: “ Toll, sie hat einen Umgang auch mit diesem Teil der Erkrankung gefunden und kann sogar offen darüber sprechen”. DESHALB ist es auch umso besser, wenn Depressions-Erfahrene von ihren eigenen Erfahrungen sprechen und letztlich Behandlung bewerben, als wenn sich Behandler im Kittel hinstellen, dabei von Depressiven sprechen und Nicht-Diagnostizierten das Gefühl geben “Mhh.. zu diesen ‘Betroffenen’ möchte ich lieber nicht gehören”.

Es schwingt manchmal ein wenig “Opfer” bzw. passiv sein mit, wenn man permanent auf die Betroffenheit und die Erkrankung reduziert wird. Es ist eine schmale Gratwanderung zwischen der nötigen Klarheit, dass Depression kein selbst-gewähltes Alibi, sondern eine Erkrankung ist und dass betroffene Menschen dennoch einen (im Falle von Depression als Diagnose) wichtigen Spielraum für eigene Aktivität haben, ohne den sie kaum gesunden können. Die ganze Selbsthilfe z.B. basiert auf dem individuellen Engagement einzelner Betroffener. Die Begrifflichkeiten und ob in einem Beitrag über Depression z.B. 15 Mal von “Depressiven” oder auch mal von “Depressions-Betroffenen” oder gar von“depressionserfahrene Menschen” die Rede ist, müssen wir als Gesellschaft aushandeln. Immer wieder. Als MUT-TOUR fordern wir ganz klar: Lasst uns die ermutigende Botschaft, nämlich DASS man Depression in den Griff bekommen KANN – schon in der Benennung darstellen: Durch die Verwendung des Begriffs “depressionserfahren” z.B.! Das macht sie zu aktiven, handelnden Menschen, die sogar eine Ressource haben: Nämlich die Erfahrung, wie man mit einer veritablen Erkrankung hat leben lernen können. Niemand sollte diese Erfahrung machen müssen, aber wenn man sie schon gemacht hat, sollte man wenigstens stolz auf den eigenen Umgang mit ihr sein.

In obiger Abhandlung habe ich einige Punkte angesprochen, die für viele Menschen, die außerhalb unserer “Psycho-Blase” leben oder arbeiten, Neuland sind. Ich möchte damit zeigen, dass die meisten von Ihnen Lesern, die selbstDepressionserfahrung haben und bereit sind damit an die Öffentlichkeit zu gehen, bereits alles haben, was es braucht, um einen durchschnittlichen Journalisten relevante Dinge zu erzählen, die er gerne in die Zeitung schreibt. Nun braucht es nur noch einen Anlass und fertig ist der Artikel. Anlass für ihren Artikel könnte ein Tag der Offenen Tür Ihrer SHG sein. Irgendwas wahnsinnig Profanes. Im Falle unserer Tandem-Teams ist der Anlass das Durch-den-Ort-Kommen. Das zeigt, dass es weniger unsere Kilometerleistung bzw. die Kraftanstrengung ist, sondern dass die Vermittlung von ermutigender Depressionserfahrung und der Ortsbezug genug sind, um zu berichten. Wir erleben seit 2012 regelmäßig, dass Journalisten total froh sind, mit depressionserfahrenen und sendungsbewussten Menschen “offiziell” sprechen zu können. Natürlich hat fast jeder der Journalisten selbst auch jemand Betroffenes im Bekanntenkreis. Denn dürfte die Hemmschwelle, den eigenen Schwager für einen Zeitungsartikel zu interviewen recht hoch sein. Von den ca. 1.200 Journalistenkontakten, die wir in den letzten 6 Jahren hatten – von denen ich noch ein Großteil live mitbekommen habe – waren gefühlt keine zehn Male dabei, wo uns ein Journalist oder eine Journalistin in irgendeiner Weise blöd gekommen wäre. Im Gegenteil. Die allermeisten waren sehr wertschätzend, empathisch und nicht selten selbst depressionserfahren, wie uns häufig mitgeteilt wurde.

Wir haben online an zwei Stellen Material, das für Sie unter Umständen interessant sein könnte: Unter mut-tour.de/broschuere finden Sie ein PDF “Unter besonderen Umständen”, in dem wir acht verschiedene Lebensbereiche darstellen, deren Verdichtung zu Depression führen können. Zielgruppe sind Menschen, die sich ihre Erkrankung noch nicht vollends eingestanden haben, Stichpunkt Selbststigmatisierung. Sie können für ihre Öffentlichkeitsarbeit auch gedruckte Broschüre bestellen.
Unter www.mut-tour.de/presse-tipps finden Sie einige Tipps, wie Pressearbeit vor Ort funktionieren kann.

https://www.apk-ev.de/veranstaltungen/jahrestagung/tagung-2018/selbsthilfetag/

X