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grünes Dickich als Sinnbild für komplexe psychische Krisen

Unsicherheiten aushalten lernen

Mut fördern e.V. im Gespräch mit Gudrun Weißenborn vom Landesverband Berlin e.V. Angehörige psychisch erkrankter Menschen.

Manchmal sind es Zufälle, die besondere Menschen zu besonderen Aufgaben führen. So auch bei Gudrun Weißenborn, Projektleiterin des ApK Berlin. Bereits seit über 15 Jahren engagiert sich die Rehabilitationspädagogin und Physiotherapeutin, die selbst auch Angehörige ist, für die Sichtbarkeit der Anliegen Angehöriger von psychisch erkrankten Menschen. Ihr persönliches Hauptanliegen, so beschreibt es Gudrun Weißenborn, ist es, die Angehörigenposition zu stärken und den Angehörigen eine Stimme zu geben. Viele der Angehörigen würden dies für sich selbst erst spät oder gar nicht einfordern. Zu sehr steht oftmals die Perspektive der betroffenen Person im Fokus, obwohl ja auch die angehörige Person einer herausfordernden Situation ausgesetzt ist. Nicht selten kommen Angehörige dabei an die eigenen Belastungsgrenzen, die es unbedingt notwendig machen, auch ihnen Hilfe anzubieten bzw. sie bei der Bewältigung von Krisensituationen unterstützend zu begleiten. Dafür hat der ApK Berlin Angebote geschaffen, um Angehörigen Informationen und Hilfestellungen zur Verfügung zu stellen bzw. diese unterstützend zu beraten.

 

grünes Dickich als Sinnbild für komplexe psychische Krisen

Die Peerberatung hilft Angehörigen dabei die Komplexität einer psychischen Krise zu reduzieren, um wieder entscheidungsfähiger zu werden.

Mit welchen Anliegen kann ich mich an den ApK Berlin wenden bzw. was sind die zentralsten Anliegen und Themen, die euch in der Beratung begegnen?

Es geht vor allen Dingen um psychosoziale Anliegen, denn mit einer psychischen Krise, in der das Denken, Fühlen und Handeln ver-rückt sind, greifen die erlernten Regeln, mit denen wir uns im Alltag bewegen, nicht mehr. Im alltäglichen Miteinander, ob familiär oder beruflich, treten die ersten Unsicherheiten auf, erste Fragen bleiben unbeantwortet. Dieser Prozess wird von den Beteiligten lange Zeit als Beziehungs- oder Familienkonflikt gewertet und behandelt. Damit vergehen oft Jahre. Jahre, in denen sich Missverständnisse anhäufen und sich Irritationen einschleichen.

Deshalb geht es vorwiegend um Fragen des Alltags und der Beziehungsgestaltung, es geht um Fragen der eigenen Rolle, sowie der Verantwortlichkeiten und den Grenzen der Verantwortung. Und es geht um den Umgang mit Diskriminierung, Stigmatisierung, Tabus und den Möglichkeiten der Entlastung.

Wie kann der Alltag so gestaltet werden, dass es für alle als gelingend erlebt wird? Wie kann für die Bedürfnisse aller Beteiligten gesorgt werden? Hierbei geht es oft um die Regelung von Konflikten zwischen den schützenswerten Grundrechten der einen und denen der anderen.

Ein immer wieder aufkommendes Thema sind Gefühle von Schuld und Scham. Das nimmt sehr viel Raum ein und deshalb ist es für uns auch sehr wichtig, ganz viel über die Gefühle zu reden und über die Rollen, die eingenommen werden. Es ist wichtig Scham als etwas wahrzunehmen, was uns dabei hilft, unsere Grenzen gut kennenzulernen und diese Scham als Signal zu nutzen. Oftmals sprechen wir dies in der Beratung an und die Menschen reagieren mit viel Neugierde.

 

Welche Angebote bietet der ApK Berlin an?

Zunächst einmal bieten wir persönliche Beratung an, von Angehörigen für Angehörige. Unsere ehrenamtlichen Mitarbeitenden sind alle qualifiziert im Rahmen unserer Peer-Qualifizierung. Die Beratung kann sowohl telefonisch, per Video oder in Präsenz in der Geschäftsstelle stattfinden.

Die Grundlage unserer Beratung ist es, gemeinsam die Möglichkeiten und Grenzen der Verantwortung auszuloten. Dabei ist es wichtig, zwischen der Verantwortung und den Verantwortungsgefühlen zu unterscheiden. Wenn Menschen auf Grund ihrer Verantwortungsgefühle für ihr Gegenüber aktiv werden, so muss dies nicht unbedingt hilfreich für die andere Person sein. Es kann sogar für die helfende Person belastend sein, weil sie vielleicht in Aktivitäten kommt, die sie gar nicht bewältigen kann.

Eine weitere Form des Austausches findet in unseren Selbsthilfegruppen statt. Diese haben wir ganz bewusst nicht nach Diagnosen organisiert, sondern nach Beziehungsebenen. Unsere Erfahrung sagt, dass eine Diagnose eher eine untergeordnete Rolle spielt, schließlich geht es ja um Bewältigungshandeln im Alltag. Hinter der Beziehungsebene steht die Frage, in welcher sozialen Rolle sich die anfragende Person befindet. Ist sie Elternteil eines minderjährig psychisch erkrankten Kindes oder eines erwachsenen Menschen? Ist sie Geschwisterkind? Ist sie/er Partner:in, mit oder ohne gemeinsamen Kind? Lebt sie mit der in der Krise befindlichen Person unter einem Dach oder nicht? Ist sie Kind eines erkrankten Elternteils, minderjährig oder erwachsen und in welcher sozialen Situation?

Darüber hinaus bieten wir im Rahmen der Angehörigenakademie die verschiedensten Formate an. Dies können Tagesseminare oder Seminarfolgen sein, Workshops oder Informationsveranstaltungen. Viele dieser Angebote sind nur für Angehörige, einige sind trialogisch durchgeführt. Die Themenvielfalt richtet sich nach den Anliegen und Anfragen der Angehörigen.

``Angehörige entwickeln eigene Bewältigungsstrategien. Ein Teil der Angehörigen nimmt sich und seine/ihre Bedürfnisse im Alltag zurück. Es wird viel getan in der Hoffnung, die Not des Anderen zu verringern.``
Gudrun Weissenborn, ApK Berlin e.V.
Soziales Netzwerk, Angehörige von Menschen mit psychischen Erkrankungen

„Wir sind soziale Wesen und wir leben nicht isoliert. Jede Person hat ein soziales Netzwerk, das es gilt mit einzubeziehen und zwar im Sinne der Ressource.“

Der Prozess, sich als angehörige Person selbst auch die eigene Unterstützung zuzugestehen, ist oftmals ein langwieriger. Wie kann eure Beratung hier zusätzlich unterstützen?

Unsere Erfahrung ist in der Tat, dass sich viele Angehörige erst sehr spät Unterstützung holen. Viele Menschen kommen erst, wenn sie an ihre eigenen Belastungsgrenzen gestoßen sind. Die Beratung ist dann zunächst eine Reflexion der eigenen sozialen Situation, aber auch der eigenen Ansprüche und Erwartungen, die man hat. Hier geht es auch um´ s Loslassen, um den Umgang mit dem tiefen Gefühl der Trauer und dem schmerzhaften Gefühl der Scham.

Angehörige entwickeln eigene Bewältigungsstrategien. Ein Teil der Angehörigen nimmt sich und seine/ihre Bedürfnisse im Alltag zurück. Es wird viel getan in der Hoffnung, die Not des Anderen zu verringern. Dabei kommen Angehörige an die Grenzen ihres Familiensystems, aber auch des psychosozialen Versorgungssystems und so werden manchmal auch weitere Belastungen geschaffen, über die sie sich vorher gar keine Gedanken machen konnten, weil es diese Situation zuvor nicht gab. Das ist ein Weg mit Hürden und Widerständen, die die Angehörigen an den Punkt kommen lassen, dass auch sie selbst Unterstützung brauchen. In erster Linie benötigen Angehörige psychosoziale Entlastung. Im Austausch mit erfahrenen Angehörigen kann (endlich) ohne Scham gesprochen werden, Tabu´s können entmystifiziert werden.

Unser Beratungsansatz ist ein ermächtigender. Er soll die Angehörigen in die Lage versetzen, wieder handlungsfähig zu werden. Dies bedeutet, die verschiedenen Gefühle gut wahrzunehmen und die eigenen (Belastungs-)Grenzen ernst zu nehmen. Dies stärkt die Anfragenden in der Beziehung zu sich selbst und zu anderen – eine gute Grundlage für gelingende Beziehungen.

``Mit den Anfragenden gehen wir auf die Suche nach Antworten, bieten einen Raum für gemeinsame Reflexion, loten die Grenzen des Machbaren aus.``
Gudrun Weissenborn, ApK Berlin e.V.

Das Thema der Grenzen ist wahrscheinlich grundsätzlich ein recht zentrales Thema in eurem Beratungsangebot. Wie genau sieht so eine Beratung aus?

Die Beratung ist überwiegend 1:1, selten kommen auch zwei Personen in die Beratung. Sehr vereinzelt gibt es Anfragen von einer Gruppe von Freund:innen oder Kommiliton:innen.

Die Anfragenden kommen in die Beratung, weil sie unglücklich sind und etwas verändern möchten, jedoch in einem moralischen oder sozialen Dilemma stecken. Das bedeutet, egal wie die Person sich entscheiden würde, es käme zu einem unerwünschten Resultat. Dies wird als Ausweglosigkeit oder als paradox empfunden und die Menschen fühlen sich dadurch hilflos. Mit den Anfragenden gehen wir auf die Suche nach Antworten, bieten einen Raum für gemeinsame Reflexion, loten die Grenzen des Machbaren aus. In der Beratung stoßen wir Prozesse an und erleben dies selbst als gelingend, wenn die anfragende Person wieder Hoffnung schöpfen kann.

 

Eine Änderung der Beziehungsdynamik bringt ja auch Konfliktsituationen mit sich. Fängt euer Beratungsangebot auch hier auf?

Absolut! Konflikte gehören dazu, um auch die Grenzen gut spürbar zu machen. Sie gehören zum Leben. So können Konflikte auch positive Effekte haben.

Und selbstverständlich können die Anfragenden wieder in die Beratung kommen, auch wenn wir eigentlich keine Folgeberatungen anbieten können. Aber natürlich können Menschen wiederkommen, denn die Situation ändert sich ständig und selbstverständlich können wir die Themen dann auch wieder neu besprechen.

 

Euer Beratungsangebot ist ein Peer-Beratungsangebot, d.h. jede Person, die beim ApK Berlin berät, ist auch selbst Angehörige?

Ja. Das ist für uns ein Qualitätsmerkmal, dass Angehörige andere Angehörige beraten. Hierzu werden unsere Angehörigen-Peer-Berater:innen qualifiziert. In der Qualifizierung lernen die Teilnehmenden die eigenen Themen zu reflektieren, die Dilemmata der Angehörigen zu hinterfragen, verschiedene Perspektiven einzunehmen und gute Gründe für die Allparteilichkeit zu erforschen auf der Suche nach einem konstruktiven Umgang mit den verschiedenen Herausforderungen.

Darüber hinaus lernen die Teilnehmenden die eigenen Erlebnisse produktiv in die beratende Arbeit einzubringen, ohne persönlich werden zu müssen und dennoch das Erfahrungswissen weitergeben zu können. Das ist sozusagen die Kunst der Peer-Beratung, dass die Berater:innen auf die persönlichen Erfahrungen zurückgreifen können, um im selben Moment empathisch den Erfahrungsraum der Anfragenden zu beleuchten.

 

Wahrscheinlich ist das auch ein echtes Plus für die Personen, die zu euch in die Beratung kommen. Ich könnte mir vorstellen, dass es sich leichter öffnen lässt durch die kollektive Erfahrung mit der beratenden Person?

Ja, da ist auf jeden Fall ein Vertrauensvorschuss da, der den Berater:innen gegeben wird. Beide Personen, die anfragende und die beratende, kennen die ethischen und sozialen Dilemmata, kennen beide die Grenzen des Möglichen und kennen beide die manchmal überwältigenden Gefühle, die Ohnmacht, die Sorge, die Ratlosigkeit – bei aller Verschiedenheit der sozialen Situation. Das bedeutet, dass die Anfragenden nicht mehr alles dezidiert erklären müssen und dass die Berater:innen die Beziehungsdynamiken und auch die Not schnell erfassen.

Die Menschen, die uns erreichen, sagen, dass sie sehr dankbar sind für die geteilte Erfahrung.

 

Wie können Hilfesuchende mit euch Kontakt aufnehmen?

Gerne über Telefon oder Mail. Wir beantworten dann die Anfragen und machen das erste Kurzgespräch, in dem wir uns über die grundsätzlichen Anliegen informieren. Manch eine Person sucht nach einem Beratungsangebot, die andere sucht eher nach einer Selbsthilfegruppe. Es werden Termine und Kontakte ausgetauscht und Treffen vereinbart.

Für die Beratung nehmen sich die Ehrenamtlichen viel Zeit, 1,5- 2 Stunden. Dies ist vor allem deshalb notwendig, weil wir erstmal sehr viele Themen bearbeiten müssen, die den Alltag, die Strukturen und das Hilfsangebot betreffen bzw. oftmals die Situation des betroffenen Menschen angehen, bis wir zum eigentlichen Angehörigenthema kommen. Dann beginnt die eigentliche Angehörigenberatung, wenn wir uns nun dem Menschen widmen, der in seiner/ihre Not vor uns sitzt. Und diese Zeit nehmen wir uns gerne.

 

Zum Abschluss des Gesprächs: Was ist etwas, das dir besonders am Herzen liegt zu erwähnen?

Angehörige sind eine wichtige Ressource für die Genesung und Aufrechterhaltung seelischer Gesundheit mit und ohne Krisen. Deshalb ist es wichtig, Angehörigen selbst Raum und Gehör zu geben. Wir sind soziale Wesen und wir leben nicht isoliert. Jede Person hat ein soziales Netzwerk, das es gilt mit einzubeziehen und zwar im Sinne der Ressource. Und wo die Ressourcen im sozialen Netzwerk gering sind oder vielleicht noch nicht vorhanden, sich dort zu bemühen, diese Ressourcen zu aktivieren.

Wie jeder Mensch, benötigen Angehörige selbst eigene Ressourcen. Durch die Peer-Beratung im ApK Berlin und durch die Angehörigen-Selbsthilfegruppen können wir die Ressourcen des Individuums stärken. Dies dient den Angehörigen selbst, aber es dient auch dem sozialen Netzwerk insgesamt und damit natürlich auch direkt dem in der Krise befindlichen Menschen.

Herzlichen Dank liebe Gudrun für deine Worte, deine Zeit und die wichtige Arbeit, die du und der ApK Berlin leisten!

 

Das Gespräch führte Laura Zoelzer für Mut fördern e.V.

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